Würzburg (POW) „Das Fernsehen wird nicht von Idioten geschaffen, sondern es schafft sie.“ Diese über 25 Jahre alte Feststellung des amerikanischen Medienwissenschaftlers und Soziologen Neil Postman hat Lutz Besser, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, an den Anfang einer Fachtagung über die Manipulation und Gewalt in Neuen Medien gestellt. Über 220 Erzieher und Pädagogen aus unterfränkischen Jugendhilfeeinrichtungen waren hierzu auf Einladung des Caritasverbandes und der Arbeitsgemeinschaft katholischer Jugendhilfeeinrichtungen in die Don-Bosco-Berufsschule gekommen.
Die Entwicklung des Gehirns, das Besser als den wichtigsten Verdauungsapparat des Menschen bezeichnete, sei weniger genetisch bedingt, wie es die Wissenschaft noch bis vor wenigen Jahren glaubte. Sie beruhe in erster Linie auf äußeren Einflüssen. Die ersten Jahre seien dabei die wichtigsten. „In keiner Lebensphase entwickeln sich das Gehirn und die wichtigsten Veranlagungen eines Menschen so sehr wie im Vorschulalter“, sagte Besser. Er sprach sich daher vehement gegen den zu frühen Einsatz von Computern und Fernsehen in den Kinderstuben aus. Tägliche Fernsehkonsumzeiten von mehreren Stunden für Kleinkinder seien nicht ungewöhnlich, was inzwischen viele Studien aus Europa und den USA belegen. Werden solche Kinder älter und wendeten sie sich immer mehr dem Computer zu, kämen Bildschirmzeiten von fünf bis acht Stunden zustande. Kinder, denen alles vorgesetzt werde, die keine Anstrengungen mehr unternehme müssten und nur noch in der medialen „Schrottwelt“ lebten, könnten jedoch weder geistige und körperliche noch soziale Fähigkeiten entwickeln.
Kinder, die zu Hause keine Bindung und Geborgenheit erführen, gingen auf Suche und würden von anderen Anbietern abgeholt. „Das kann Dieter Bohlen sein, es kann eine Sekte sein oder die Neonazis“, erklärte Besser. Zu früher und vor allem unkontrollierter Medieneinsatz produziere Kinder mit dem FDDH-Syndrom: Faul, dick, dumm und hyperaktiv. „Solche Kinder werden passiv, abhängig, süchtig, einsam, gereizt, aggressiv und sind potenziell gewaltbereit.“ Viele Fernsehsendungen würden immer lauter, aggressiver, gewalttätiger, sexistischer und zusammenhangloser. Während jugendliche Mädchen vor allem TV-Quotenhits wie „Deutschland sucht den Superstar“ und „Germanys Next Topmodel“ konsumierten und online viel chatteten, wendeten sich Jungs mehr dem Computer zu und spielten dort vor allem Gewalt-, Killer- und Strategiespiele. Dabei gäbe es keinen Unterschied mehr, ob sie Hauptschulen, Realschulen oder Gymnasien besuchten.
Der 20-jährige Würzburger Vincent Bina, der zwischen seinem 13. und 17. Lebensjahr eine intensive Computerspielphase durchlebt hatte und im vergangenen Jahr sein Abitur erwarb, stellte im zweiten Teil der Fortbildung Computerspiele vor. Kriegsspiele, die gegen den Computer oder reale Mitspieler ausgetragen werden, komplexe Strategiespiele oder sogenannte Ego-Shooter, bei denen gewinnt, wer möglichst schnell viele Gegner erlegt. Die realitätsnahe Darstellung moderner Computerspiele lässt das spritzende Blut und die einzelnen Körperteile der getöteten Feinde deutlich erkennen. Viele der anwesenden Pädagogen und Erzieher waren sichtlich schockiert über die drastische Präsentation. Spiele, bei denen ein Gangster durch die Straßen einer Stadt zieht und wahllos – und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen – Menschen tötet, zusammenschlägt, überfährt oder in den Boden stampft, könnten Vorbilder sein für gewaltbereite Jugendliche, ist sich Besser sicher.
Nach U-Bahnangriffen wie zum Beispiel in München würde immer viel gefragt, woher bei den Jugendlichen diese Gewaltbereitschaft komme. „Hier haben Sie die Antwort“, sagte Besser zu seinen Zuhörern. Auch Robert Steinhäuer in Erfurt und Tim Kretschmer in Winnenden hätten derartige Spiele gespielt. „Solche Täter sind keine Amokläufer, die herumballern und zufällig einige Opfer treffen, sondern es sind hochtrainierte Scharfschützen, die ihre Opfer kaltblütig und mit einem Schuss erledigen“, sagte Besser. Als Leiter des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen betreute er Erfurter Schüler und Lehrkräfte, die die virtuellen Blutlachen live erlebten. „Erfurt und Winnenden werden sich wiederholen“, ist sich Besser sicher.
(3009/0859; E-Mail voraus)
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