Die Predigt im Wortlaut:
„Auf welchem Fundament stehen wir?“ – Das war die Frage eines Kommentators in einer bundesweit erscheinenden Tageszeitung vor wenigen Tagen. Angesichts der aktuellen Erschütterungen fragen viele nachdenkliche wie auch besorgte Menschen nach der Zukunft der Welt:
- 65,3 Millionen Menschen rings um den Erdball fliehen derzeit vor Armut, Verfolgung, Terror und Krieg.
- IS, Al Qaida und viele weitere Terrororganisationen bedrohen das Leben der Menschen und stellen inzwischen ein globale Gefahr für die gesamte Erde dar.
- Der jüngste Anschlag am Istanbuler Flughafen, die Angst vor Terrorakten am Rande der Fußball-Europameisterschaft bis hin zur Furcht vor Selbstmordattentaten bei größeren Menschenansammlungen wie z.B. beim sogenannten Public-Viewing verunsichern die Menschen zutiefst.
- Die sinnlosen Straßenschlachten von Hooligans in Marseille, Nizza, Lille, Paris usw. erfüllen viele mit Sorge,
- ebenso wie die zunehmende „Verrohung der Gesellschaft“, wie die WELT vor wenigen Tagen schrieb.
Die derzeitigen Vorgänge rings um den Erdball machen viele ratlos.
Der Brexit und die Diskussionen darüber rütteln wach, zumal in diesem Zusammenhang derzeit immer häufiger von fremdenfeindlichen Aktionen nicht nur in England berichtet wird. Beobachter sagen: Das Ergebnis des Brexit entspricht der immer stärkeren Abgrenzung vor allem Fremden.
All das steht sicher auch im Zusammenhang mit einem übertriebenen Individualismus in unserer Epoche, der ein immer größerer Egoismus folgte. Damit einher geht der wachsende Nationalismus. Im Großen wie im Kleinen zeigt sich das gleiche Grundmuster: „Jeder denkt an sich, nur ich denk‘ an mich!“ Deshalb die Frage: „Auf welchem Fundament stehen wir?“
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte in seiner Laudatio bei der Verleihung des Karlspreises an Papst Franziskus vor einigen Wochen: „… Europa, das ist mehr als eine Zweckgemeinschaft, … wo man an dem einen Tag Vollzeit-Europäer ist, weil man alles kriegt, und am anderen Tag Teilzeit-Europäer sein möchte, weil man etwas abgeben muss. …“
Dem Dominoeffekt folgend, so befürchten Kommentatoren, werden nach dem Muster des Brexit weitere Staaten folgen. Es scheint vergessen, was nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg die Gründer der Europäischen Union antrieb: Nie mehr sollten die Völker Europas gegeneinander aufstehen, deshalb galt es eine möglichst enge Vernetzung zu gestalten.
Der Aachener Oberbürgermeister sagte bei der Karlspreisfeier in Rom: Die „Erosion des kulturellen und moralischen Fundamentes in Europa“ ist beängstigend. Martin Schulz bestätigt: „Europa durchlebt eine schwere Solidaritätskrise; unsere gemeinsame Wertebasis gerät ins Wanken“.
Die letztlich darin begründete Verunsicherung nutzen Populisten und treiben ihr böses Spiel, indem sie Ängste schüren und Menschen in ihrer jeweiligen Not gegeneinander ausspielen. Diese Analyse teilte der Papst, er sprach von einem „heruntergekommenen Europa“.
Deshalb ist es bemerkenswert: Vor zehn Jahren noch haben die Europäer Gott aus der Präambel des Vertragswerks gestrichen und nun pilgerten Parlamentspräsident Martin Schulz, Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratsvorsitzender Donald Tusk und viele Staats- und Regierungschefs nach Rom, um dem Papst zu huldigen.
Und was macht der Papst: Er erinnerte an Adenauer, Schumann, de Gaspari, beherzte Christen, die daran gingen, ein gemeinsames Europa zu gründen. Franziskus zitierte u.a. Robert Schuman, der sagte: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Von daher mahnt der Papst: „Gerade jetzt, in dieser unserer zerrissenen und verwundeten Welt, ist es notwendig, zu dieser Solidarität der Tat zurückzukehren.“ Deshalb verweist er nochmals auf Robert Schuman: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Und er fügt hinzu: „Die Pläne der Gründerväter … sind nicht überholt: Heute mehr denn je regen sie an, Brücken zu bauen und Mauern einzureißen“ … und „mutig neue, tief verwurzelte Fundamente zu legen.“
Das ist unsere Aufgabe als Christen – so wie damals vor zweitausend Jahren. Die Christen bezeugten die Frohe Botschaft des Auferstandenen durch Wort und Tat. Der Apostel Paulus erinnert in seinem Brief die junge Christengemeinde in Rom und ebenso uns heute:
„… haltet fest am Guten! Seid einander in geschwisterlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! … gewährt jederzeit Gastfreundschaft! … Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig!“
Die Christen der ersten Jahrhunderte wurden nicht wegen ihrer Gottesdienste verfolgt, sondern weil sie eine soziale Kultur entfalteten, die ihrem Glauben und von daher ihrem Menschenbild entsprach. Ihr Engagement wurde dem Staat plötzlich gefährlich und stellte diesen sogar in Frage. Die Christen nahmen sich besonders der Menschen an, die dem Staat nicht nützlich und nichts wert waren: Kinder, Waise, Witwen, Gebrechliche, Behinderte, Alte und auch Fremde. Dies führte dazu, dass Menschen nach dem Grund ihres Verhaltens fragten und sich immer mehr ihrer Gemeinschaft an schlossen. „Wenn Euer Gott so ist, wie Ihr ihn uns vorlebt, dann wollen wir auch an IHN glauben!“
Nicht die Rückbesinnung auf irgendwelche vertrauten, liebgewordenen, traditionellen Gottesdienstformen, sondern die Konsequenz aus der Frohen Botschaft im Umgang mit den Menschen wirkt einladend für den Glauben und das Leben als Christ.
Alle politischen Diskussionen um Kinder haben nicht so viel Überzeugungskraft wie das konsequente Ja zu ihnen als Gabe und Aufgabe zugleich und das Engagement für sie. Dazu gehört auch die persönliche Nähe zu den Kindern gerade auf der Wegstrecke der ersten Lebensjahre, um ihnen die Zuneigung zu schenken, die sie brauchen, um innerlich gefestigt voller Vertrauen und Zuversicht ihren Weg ins Leben gehen zu können.
Ebenso haben alle politischen Diskussionen über den Wert und die Würde des gebrechlichen Menschen nicht so viel Überzeugungskraft wie der konsequente Einsatz für das geschwächte Leben. Die Pflege von älteren, hilfsbedürftigen Menschen ist für die Kirche und ihre Caritas kein gewinnbringendes Geschäftsfeld, sondern Ausdruck unserer Solidarität mit ihren Angehörigen. Mit unseren ambulanten, aber auch teilstationären und stationären Angeboten sowie mit unseren ehrenamtlichen Diensten wollen wir das Bemühen der Familien unterstützen, so weit wie möglich selber für ihre Angehörigen zu sorgen.
Deshalb müssen wir auch sehr genau bei den Reden von einer solidarischen Gesellschaft hinhören. Die einen denken dabei an das persönliche Engagement im Einsatz für den Nächsten, während andere alle Hilfe und Unterstützung vom Gemeinwesen erwarten.
Wenn wir über das geistige Fundament unseres Lebens und Zusammenlebens nachdenken, dann sollten wir auch über das Problem einer zunehmenden Gewaltbereitschaft reden. Es genügt nicht, nur Symptome zu kurieren bzw. zu therapieren, wir sollten ehrlich dem gängigen Menschenbild auf den Grund gehen und nach den Werten fragen, die uns tragen.
In der großen Herausforderung unserer Tage, nämlich der Not der Menschen, die vor Krieg, Terror und Armut fliehen und bei uns Zuflucht suchen, gilt es allen Versuchen zu wehren, die diese Menschen pauschal in den Verdacht stellen, unseren Wohlstand zu gefährden. Gerade durch die konsequente Sorge um Flüchtlinge kommt mancher Zeitgenosse ins Nachdenken, ob das pauschale, oftmals verzerrte Bild von Kirche wirklich so stimmt. Viele erleben die Kirche in dieser Not sehr engagiert.
Mit dem „Jahr der Barmherzigkeit“ weist Papst Franziskus über die zuvor genannten Beispiele hinaus auch darauf hin, selbst den Menschen, die Fehler gemacht haben, aufzuhelfen und eine Brücke zu bauen, damit sie weiterkommen. Doch es ist in unserer von den Medien geprägten Gesellschaft inzwischen geradezu ein Ritual, Menschen fertigzumachen, anstatt ihnen auf- und weiterzuhelfen.
Angesichts dieser Wahrnehmungen ist mancher in Sorge, ob es nicht schon zu spät ist, um der Welt einen guten, verheißungsvollen Weg in die Zukunft zu zeigen. Ich möchte sagen: Nein, es ist nicht zu spät, solange es beherzte Christen gibt, die sich wie Papst Franziskus für Solidarität und Mitmenschlichkeit einsetzen.
Franziskus wird nicht müde, aus diesem Anliegen heraus immer wieder auf Maria und besonders auf ihren Lobpreis zu verweisen: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. … der Mächtige hat Großes an mir getan … Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. … Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. …“
Darauf kommt es an, ob im unmittelbaren Zusammenleben in der Familie, ob in der politischen Verantwortung auf kommunaler, staatlicher oder europäischer Ebene, ob in der Verantwortung in Wirtschaft, Wissenschaft oder Medien, dass wir unser Leben im Blick auf IHN gestalten und aus SEINEM Geist heraus handeln – ebenso wie Franziskus.
Deshalb will ich nochmals auf die Botschaft des heutigen Festtages verweisen „Mariä Heimsuchung“. Maria besucht Elisabeth. Darin steckt das Wort „suchen“. Ein Besuch, echte Begegnung gelingt nur, wenn Menschen sich wirklich suchen und finden wollen. Heimsuchung ist also die Erfahrung, dass jemand bei mir ankommt, dass er mich meint mit seiner Zuneigung, mit seinem Bemühen, dass ich mich ihm und seinem Entgegenkommen öffne.
Wir aber sprechen meist von Heimsuchungen, wenn mir jemand etwas nimmt, wenn jemand nur etwas von mir will. Und in der Tat ist die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der berechnende Umgang miteinander, bei dem jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, eine schlimme Heimsuchung für die Menschheit.
Ganz anders verlief der Besuch, die „Heimsuchung“ Mariens bei Elisabeth. Da ging das Herz auf. Genau darauf kommt es an, dass wir den Menschen – ob in der Nähe oder in der Ferne – im Blick haben und ihm die Zuneigung Gottes, SEINE Menschenfreundlichkeit und Liebe bezeugen.
Wo Menschen einander wirklich suchen, um sich zum Leben zu verhelfen, da kommt Gott ins Spiel, da wird Leben möglich – wie bei Maria und Elisabeth.
Von dieser Überzeugung beseelt, sagte Papst Franziskus vor dem Europaparlament im November 2014: Europa muss die christlichen Wurzeln seiner Identität, „seine gute Seele“, wiederentdecken. Dazu merkte er an, dass die Religion nicht nur das fundamentale Erbe einer 2 000-jährigen Vergangenheit sei, sondern die Grundlage biete für die künftige soziale und kulturelle Entwicklung Europas. Der christliche Beitrag sei dabei keine Bedrohung für säkulare Staaten, sondern eine Bereicherung und Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität.
„Ein Europa, das nicht mehr offen ist für die transzendente Dimension des Lebens, riskiert, langsam seine eigene Seele und jenen ‚humanistischen Geist‘ zu verlieren, den es weiterhin liebt und verteidigt“, sagte Franziskus. Die Kirche wolle helfen, das gegenwärtige „Vakuum der Ideale“ neu zu füllen mit ihrem Einsatz für Menschenrechte, mit der Stärkung der Demokratie und dem Engagement für Familie, Arbeit, Umwelt und Migranten.
Weil das Vertrauen der Bürger ins Leben und ins Zusammenleben insgesamt und damit auch in die politische Gestaltungskraft abnimmt, will der Papst dem Kontinent eine Botschaft der Hoffnung und Ermutigung bringen. Europa müsse „zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union zurückkehren, die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinents zu fördern“.
Das Fest Mariä Heimsuchung stellt uns die Frage: „Wen und was suchen wir? Wovon erhoffen wir Leben, Zufriedenheit und Glück?“
Die Erinnerung an die Grundsteinlegung für die Wallfahrtskirche „Ave Maria“ vor 300 Jahren wirft die Frage auf: „Auf welchem Fundament stehen wir?“
Die Antwort geben die unzähligen Menschen, die seit Jahrhunderten hierher kamen und kommen, um sich zu vergewissern, dass Gott sie in all ihren Sorgen, Zweifeln und Nöten trägt und hält.
Mit der Kraft, die uns hier in der Begegnung mit Maria und durch sie mit dem menschenfreundlichen Gott zukommt, gilt es dann, zuversichtlich unseren Weg weiterzugehen und beherzt anzupacken, um die Welt in SEINEM Geist zu gestalten. So wird deutlich „auf welchem Fundament wir stehen“ und was uns trägt.
