Der Nebel liegt noch tief in den nordböhmischenTälern, als geistliche Lieder zu hören sind, plötzlich Männer auftauchen, die schwere Prozessionsfahnen vor sich her tragen, gefolgt von einer barocken Marienbüste und Hunderten von Gläubigen. Mittendrin eine Gruppe der Würzburger Ackermann-Gemeinde. Kurz bevor es eine steile Treppe hinauf zur Kirche St. Martin in Markersdorf, dem heutigen Markvartice in Tschechien, geht, wartet Pfarradministrator Marcel Hrubý auf die Prozession, der ersten nach der Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland. Gemeinsam mit fleißigen Helfern ist es ihm gelungen, das Gotteshaus, das dem Verfall preisgegeben war, zu retten und wiederaufzubauen.
Nicht zuletzt waren es die Würzburger Ackermänner, die ihm mit Rat und Tat zur Seite standen. „Es ist einfach wunderbar, was hier geleistet wurde“, stellt Diözesanvorsitzender Hans-Peter Dörr fest, der sich noch daran erinnert, wie hoffnungslos die Kirche wirkte. Auf Marcel Hrubý war seine Gruppe vor einigen Jahren über eine Renovabis-Partnerschaft der Pfarrei Karbach bei Marktheidenfeld gestoßen. Es folgten regelmäßige Besuche in dem an das sächsische Elbsandsteingebirge angrenzenden Gebiet, wo Hruby insgesamt 14 Pfarreien betreut. Sie halfen dabei, Kontakte zu knüpfen und unterstützten den umtriebigen Bauherrn auf seinen „Betteltouren“, wie er selber sagt, durch die Diözesen. Ein prächtiges Glasfenster, das den heiligen Kilian zeigt, erinnert nun an die Verbindungen nach Würzburg.
Noch vor wenigen Jahren war das Gotteshaus eine Ruine. Mithilfe vieler Helfer, öffentlicher Fördermitteln, aber auch dem Einsatz der deutschen
Diözesen ist es gelungen, die Kirche zu retten.
Übervolle Kirche
Als die beiden schweren Glocken im Turm zu läuten beginnen, erwacht die Kirche endgültig aus ihrem Dornröschenschlaf. Pünktlich um
elf Uhr setzen die Orgel und der Chor ein: Es ist die erste Messe, die hier seit 1966 gefeiert wird. Die Kirche ist so voll wie nach dem Kriegsende, als die Deutschen aus Markersdorf vertrieben wurden, nicht mehr: Deutsche wie Tschechen sitzen eng beieinander in den Bänken. Über den Köpfen wölbt sich der Schriftzug „Wahrlich hier ist Gottes Haus und eine Pforte des Himmels“. Die Lesungen und Predigten sind zweisprachig, gesungen wird auf Tschechisch. Doch die letzten drei Lieder sind auf Deutsch. „Gott wir loben Dich ..“, erklingt mit kräftigen Stimmen.
Altarweihe
Höhepunkt der Feier ist die Altarweihe des Salzburger Erzbischofs em. Monsignore Alois Kothgasser. Als er mit Öl die fünf Wundmale Christi darstellt, es mit der flachen Hand auf dem Stein verreibt und Weihrauchschälchen aufstellt, scheint er symbolisch auch die traditionell enge Verbindung Böhmens nach Wien erneuern zu wollen. War es doch sein Amtsvorgänger Ernst Johannes Thun, der die deutlich ältere Kirche nach ihrer barocken Umgestaltung 1706 geweiht hat. „Dieses Haus soll Dir Herr auf ewig gehören“, betet er, was wohl noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Nur noch eine Ruine
Betrachtet man die Fotos, die am Eingang der Kirche in einer kleinen Ausstellung zu sehen sind und die den raschen Verfall der Kirche dokumentieren, wird deutlich, was hier geleistet wurde. Die Schwarz-Weiß-Fotos wirken gespenstisch: Schon in den 1960er Jahren blicken einen leere Fensterfluchten wie glanzlose Augen an. Die Bilderrahmen sind leer, die Statuen abgeräumt, geklaut oder in Museen. In das offen liegende Mauerwerk sickert Wasser ein. 1991 stürzt das Dach ein und erste Bäume und Büsche wachsen auf den Mauern. Spätestens jetzt ist das Gotteshaus eine Ruine wie viele Kirchen in der Gegend, in der ganze Orte verschwunden sind. Das Schicksal der Kirche, die bereits die Kommunisten zum Abriss vorgesehen hatten, scheint besiegelt.
„Mit den Umwälzungen nach Kriegsende erlitt auch der Glauben schweren Schaden“, erzählt Hruby beinahe etwas entschuldigend. Die vorhandenen Strukturen wurden von einem Tag auf den anderen zerrissen. Die Menschen, die hier angesiedelt wurden, kamen oft aus der Ferne, Auslandstschechen aus Russland oder Wolhynien, Slowaken aus dem Osten des Landes, Roma und Sinti. Es habe ihnen jeder Bezug zu der Gegend und den Gebäuden gefehlt, Fragen nach der Geschichte der Region seien ohnehin nicht erwünscht gewesen.
Es mutet denn auch wie ein Wunder an, als 2002 plötzlich Arbeiter kommen, kräftige junge Leute aus der Umgebung und aus befreundeten Pfarreien und damit beginnen, mit Schubkarren den Schutt aus der Kirche zu räumen, Außenwände zu sichern und Gerüste aufzubauen. Viele sind Freiwillige, wie die fünf, die aus dem mährischen Ostrau anreisen, um die Kirche zu verputzen. Gleichzeitig machte sich Hrubý der in einem Ort nahe der Grenze aufgewachsen ist und noch 1986 als angehender Geschichtslehrer mit Freunden damit begann, in der Umgebung Wegkreuze in Ordnung zu bringen. Dann begab er sich auf die Suche nach Einrichtungsstücken, recherchierte und ergänzte Fehlendes wie den Haupt- und die Seitenaltäre. Die Orgel, die Kirchenbänke, die Altaraufbauten und -ausstattungen überdauerten im ostslowakischen Liskovec. Vor Kurzem ist auch die kostbare Madonna im Museum von Tetschen wieder aufgetaucht. Auch der Taufstein von 1579 mit dem Wappen des Adelsgeschlecht der Lutizen, blieb erhalten.
„Es ist vor allem die junge Generation, die sich für die Geschichte ihrer Heimat interessiert“, erzählt einer der Gäste im Trachtenjanker, der die Jahrmarktstimmung auf dem Vorplatz der Kirche mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtet: Schulkinder, die die gleiche 1855 errichtete Schule besuchen wie die Vorfahren, verkaufen an Ständen Tassen mit der aufgedruckten Kirche oder ein 260-teiliges Puzzle. Auf dem Grill brutzeln Bratwürste. Der Mann gehört zum Heimatverein Windisch-Kamnitz und erinnert sich noch an die Zeiten, als gegenseitiges Misstrauen herrschte. Gerade unter den Jüngeren gebe es heute einige, denen man auf „Augenhöhe“ begegnen könne.
Ins Museum
Der Heimatkreis plant, seine umfangreiche Sammlung an das nordböhmische Museum in der nahen Kreisstadt Tetschen (Decin) zu geben – mit dem Direktor des Bezirksarchivs Petr Joza, dessen Großvater und Mutter nach dem Krieg aus dem Ruhrgebiet in dem menschenleeren Gebiet angesiedelt wurden. „Bei uns würden die Sachen doch nur im Depot verschwinden, hier hat es eine echte Aufgabe“, berichtet er über die Überlegungen. Doch nicht alle halten das für richtig. Noch immer gebe es unter manchen Heimatvertriebenen Vorbehalte, freiwillig das bei der Flucht gerettete Gut an die Tschechen zu übergeben.
Noch immer zeugen eine Vielzahl kleiner Kapellen, Felsnischen, in die Gemälde von Heiligen eingearbeitet wurden und zur Andacht einladen, Passionssäulen oder Wegkreuze davon, wie intensiv einst das Mittelgebirge vom katholischen Glauben geprägt war. Ihn zurückzuholen und die Kirchen zu dem zu machen, was sie einst waren – geistige und kulturelle Zentren der Region, ist eine weitaus schwierigere Aufgabe als die Mauern neu zu verputzen, weiß Hruby. Heute hat der Glauben nicht mehr eine totalitäre Diktatur zum Gegner, eher die schnelllebige Welt des Konsums.
Christian Ammon