Vor wenigen Jahren wurden Fotos entdeckt und in einer eigenen Ausstellung präsentiert, die die ersten größeren Deportationen mainfränkischer Juden in den Jahren 1941 und 1942 dokumentieren. Die 119 Aufnahmen, die von einem Gestapo-Beamten stammen und mit zynischen Kommentaren versehen sind, bezeugen eine Tatsache, die nicht vergessen werden darf:
Es war nicht einfach eine anonyme Menge, die in den Novembertagen 1941 durch die Straßen unserer Stadt getrieben wurde. Es war nicht einfach eine gesichtslose, nur statistisch erfassbare Anzahl von Menschen, die ab 1941 aus Würzburg in die Ghettos und Vernichtungslager Osteuropas deportiert wurden.
Aus den Fotos blicken uns ganz konkrete einzelne Menschen an: Kinder, Jugendliche, ehrbare und geachtete Bürger dieser Stadt, alte Menschen, deren Gesichter von einem langen und bewegten Leben erzählen. Es sind Menschen, die Freunde, Nachbarn, Kunden, Patienten oder Schüler in dieser Stadt hatten – so wie wir sie haben. Es sind Menschen, die in Straßen wohnten, in denen wir heute wohnen. Erfolgreiche, die es zu etwas gebracht hatten in ihrem Leben und solche, die sich mühsam durchschlagen mussten. Es sind Menschen mit einem Namen: Ludwig Mai, Justin Zeilberger, Meta Frank oder Paula Dannenberg.
Die Fotos bezeugen zudem, was der Historiker Günther Adler einmal mit folgenden Worten beschrieben hat: „Was immer das Los der Verschleppten nach der Deportation sein mochte, jedenfalls wurden die Juden vorher schon durch Verwaltungsmaßnahmen der Gestapo ermordet, sie wurden als Menschen umgebracht: das gesamte Verfahren, das die Menschen ihrem bisherigen Lebensbereich entriss, bezweckte ihren bürgerlichen Tod“. Soweit Günther Adler. Der „bürgerliche Tod“, der dem physischen Tod voranging und sich nicht irgendwo abseits sondern in der Mitte dieser Stadt abspielte: Die Fotos zeigen Leibesvisitationen, Durchsuchungen des Gepäcks und sie zeigen einen Mann, dem vor seinem Abtransport die Goldplomben aus den Zähnen gerissen werden.
Bilder, die uns an einzelne Persönlichkeiten erinnern, um die wir heute mit der Jüdischen Gemeinde trauern. Bilder, die uns an Menschen erinnern, deren Ermordung nicht nur der Jüdischen Gemeinde sondern der ganzen Stadt bleibende Wunden zugefügt hat.
In diesem Jahr verbinden sich diese Bilder besonders mit den bedrückenden Schilderungen der Ereignisse des Jahres 1938. Genau vor 70 Jahren erlebten jüdische Bürger dieser Stadt in der Nacht des Novemberpogroms in bis dahin nicht gekannter Brutalität die Zerstörungswut der Nationalsozialisten – und sie erlebten, was bis dahin auch kaum vorstellbar war: das Wegschauen vieler ihrer – auch christlichen – Nachbarn. Nur in wenigen unserer Gotteshäuser wurde die Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser beklagt oder angeprangert. Auch hier wurde zu viel weggeschaut und geschwiegen.
Der heutige Gedenkweg, der uns die Deportation jüdischer Bürger aus unserer Stadt so schonungslos vor Augen führt, lenkt deshalb unseren Blick erneut auf die beiden Hauptaufgaben, denen wir uns als Christen verpflichtet wissen:
Das eine ist: weiterhin beharrlich gegen das Vergessen-Wollen einzutreten und an die Schicksale einzelner Menschen zu erinnern, deren Ermordung eben nicht erst mit dem physischen Tod in den Vernichtungslagern einsetzte sondern hier begann, in unserer Stadt und vor aller Augen.
Das zweite ist: sich als gute und aufmerksame Nachbarn der heutigen Jüdischen Gemeinde zu erweisen – als christliche Nachbarn, die nicht wegschauen, wenn es darauf ankommt.
Ich danke der Gemeinschaft Sant' Egidio, die mit diesem Gedenken jedes Jahr zum Hinsehen aufruft. Ich danke an dieser Stelle auch der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und vielen anderen Initiativen in unseren Kirchengemeinden, die sich kontinuierlich genau darum bemühen: An das Geschehen damals zu erinnern und heute in guter Nachbarschaft mit jüdischen Glaubensgeschwistern und Gläubigen anderer Religionsgemeinschaften zu leben.
Deshalb ist es gut, dass wir uns in der Mitte unserer Stadt und bewusst vor dem Haupttor des Domes versammelt haben. Denn wir lassen uns als Christen heute in besonderer Weise treffen von einem Wort aus dem Buch des Propheten Jeremia – aus jenem Teil der Bibel, den wir mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern gemeinsam ehren. So hören wir das Wort aus der sogenannten Tempelrede heute vor den Toren unseres Gotteshauses auch an uns gerichtet mit besonderer Aufmerksamkeit (Jer 7,1-7):
1 Das Wort, das vom Herrn an Jeremia erging:
2 Stell dich an das Tor des Hauses des Herrn! Dort ruf dieses Wort aus und sprich: Hört das Wort des Herrn, ganz Juda, alle, die ihr durch diese Tore kommt, um dem Herrn zu huldigen.
3 So spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Bessert euer Verhalten und euer Tun, dann will ich bei euch wohnen hier an diesem Ort.
4 Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier!
5 Denn nur wenn ihr euer Verhalten und euer Tun von Grund auf bessert, wenn ihr gerecht entscheidet im Rechtsstreit,
6 wenn ihr die Fremden, die Waisen und Witwen nicht unterdrückt, unschuldiges Blut an diesem Ort nicht vergießt und nicht anderen Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden,
7 dann will ich bei euch wohnen hier an diesem Ort, in dem Land, das ich euren Vätern gegeben habe für ewige Zeiten.