Evangelium
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Sofort nach den Tagen der großen Drangsal wird die Sonne verfinstert werden und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde wehklagen und man wird den Menschensohn auf den Wolken des Himmels kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Er wird seine Engel unter lautem Posaunenschall aussenden und sie werden die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, von einem Ende des Himmels bis zum andern.
Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. So erkennt auch ihr, wenn ihr das alles seht, dass das Ende der Welt nahe ist. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.
Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein. Wie die Menschen in jenen Tagen vor der Flut aßen und tranken, heirateten und sich heiraten ließen, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die an derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen.
Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Bedenkt dies: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.
Matthäusevangelium 24,29–44
Egal, ob man ein mittelalterliches Evangeliar aufschlägt oder online durch das Neue Testament surft: Den Anfang macht immer Matthäus – und das, obwohl das Markus-evangelium nachweislich älter ist und Matthäus Markus als eine Quelle genutzt hat. Auch die gottesdienstliche Verkündigung war bis zur Liturgiereform von diesem Evangelium dominiert – es gab bis 1969 quasi nur Matthäus-Jahre. Und in der wissenschaftlichen Theologie wurden zu keinem Evangelium so viele Kommentare geschrieben wie zu diesem. Warum das alles?
Der Verfasser
Das Matthäusevangelium wurde zwischen den Jahren 80 und 90 geschrieben und war schnell ein Bestseller. Dazu trug auch Papias von Hierapolis bei. Der brachte den Apostel Matthäus als Verfasser ins Spiel. Er sei gleichzusetzen mit dem Zöllner, den Markus und Lukas Levi nennen – und der bei Matthäus Matthäus heißt. Mit dieser Namenswahl habe sich der Autor selbst entlarvt. Später stimmten dem einflussreiche Theologen wie Augustinus zu, die zugleich deutlich machten, dass ein Apostelevangelium in höherem Rang steht als eines von Markus oder Lukas, die als Paulusschüler galten.
Heute wissen wir, dass der Verfasser des Evangeliums sicher kein Begleiter Jesu war und dass sein Name unbekannt ist. Sicher ist, dass er gutes Griechisch sprach und schrieb, weshalb er vermutlich im heutigen Syrien beheimatet war. Weil er sich andererseits extrem gut in der jüdischen Tradition auskannte, war er vermutlich selbst jüdisch erzogen worden. Beides passt gut zusammen, weil nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 viele Juden und Judenchristen aus Judäa flohen, sich in Syrien ansiedelten und dort auf Griechisch sprechende Heidenchristen trafen. Was für die Theologie des Evangeliums wichtig sein wird.
Der erste Satz
Vielleicht steht das Evangelium auch deshalb immer vorne, weil sich sein erster Satz als Überschrift über das gesamte Neue Testament eignet: „Das ist das Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.“ Was hier mit „Ursprung“ übersetzt ist, heißt im Griechischen „Genesis“ und ist als Begriff nicht eindeutig. Früher wurde „Stammbaum“ übersetzt, aber das ist wohl zu kurz gefasst. Eher ist Jesu gesamte Herkunft und Geschichte gemeint, seine Genese und die Genese der Kirche.
Schon im ersten Satz klingt außerdem an, was das gesamte Neue Testament theologisch beschäftigt: Für wen ist Jesus gekommen? Matthäus sagt: Zuerst für die Juden, denn Jesus ist Sohn Davids. Er war aber auch Sohn Abrahams, über den es heißt: „Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen.“ Also auch die Heiden.
Der letzte Satz
Matthäus war ein guter Autor. Denn er schlug einen großen Bogen vom ersten zum letzten Satz. Der Satz ist berühmt, er ist so etwas wie ein Gründungsauftrag der Kirche. Kein anderes Evangelium kennt etwas Vergleichbares. Der Satz, den Sie alle kennen, lautet: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,19–20)
Entscheidend für die junge Kirche ist hier dreierlei: Erstens ihr Auftrag, missionarisch zu sein – was etwa das Judentum nie war und bis heute nicht ist. Zweitens die trinitarische Formel von Vater, Sohn und Heiligem Geist, die hier erstmals so deutlich bezeugt ist. Und drittens die sichere Zusage der bleibenden Gegenwart Jesu in seiner Kirche. Literarisch brillant gemacht.
Der Vermittelnde
Was zur Beliebtheit des Evangeliums in den ersten Jahrhunderten beitrug, war seine vermittelnde Position. Der Autor muss Judenchrist gewesen sein: Er präsentiert Jesus als den in den jüdischen Schriften verheißenen Messias. Allein 19-mal schreibt er: „So sollte sich das Schriftwort erfüllen ...“ oder ähnlich. Das beginnt, um zwei Beispiele zu nennen, bei der Geburt Jesu, in der er die Prophetie des Jesaja erfüllt sieht: „Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären ...“ und endet in der Leidensgeschichte, wo es etwa heißt: „So erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Sie nahmen die dreißig Silberstücke – das ist der Preis, den er den Israeliten wert war ...“ Das Evangelium war also anschlussfähig für gläubige Juden.
Aber es war nicht ausschließend, denn ebenso wichtig sind die Christen der matthäischen Gemeinde, die früher Heiden waren. Darum nimmt das Evangelium auch die Tora-Kritik auf und betont die Universalität der Sendung Jesu. Es will die verschiedenen Pole, die die junge Kirche manchmal zu zerreißen drohten, versöhnen durch ein Sowohl-als-auch. Wie gleich zu Anfang: sowohl Sohn Davids als auch Sohn Abrahams. Ökumenisch hat man dieses Evangelium deshalb manchmal genannt: für die ganze Erde.
Der Prägende
Vielleicht bedingt es einander: Weil Matthäus so oft verkündet wird, haben wir so viele Texte von ihm im Kopf; weil er so viele herausragende Geschichten erzählt, werden sie so oft verkündet. Vier Beispiele:
- Die Sterndeuter aus dem Osten, die Jesus Geschenke bringen: Diese Weihnachtsgeschichte des Matthäus kennt beinahe jedes Kind.
- In der Bergpredigt fasst Matthäus viele Worte Jesu kompakt zusammen, die in anderen Evangelien verstreut sind. Darum ist sie viel bekannter als etwa die viel kürzere Feldrede bei Lukas.
- Die Rede vom Endgericht gibt es nur hier. „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben.“ Und: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Solche Sätze sind im christlichen Gedächtnis tief verankert.
- Matthäus ist der Papstmacher. „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ Dieser Vers hat die Geschichte der Kirche entscheidend verändert; keine andere Schrift des Neuen Testaments gibt Petrus eine auch nur annähernd so große Bedeutung.
Susanne Haverkamp

