Liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitbrüder,
wer von uns schon einmal in Israel war, der hat an den Namensschildern der unterschiedlichsten Häusern und Wohnungen kleine Röllchen mit der Aufschrift „sch’ma Israel“ gesehen. Es handelt sich hier um eine wörtliche Anwendung der Aufforderung aus dem soeben gehörten Buch Deuteronomium, den Kernsatz der Bundesstiftung zwischen Gott und dem Volk, durch Einprägung und Verbreitung lebendig zu halten. Dieser Kernsatz lautet: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.“ (Dtn 6,4)
Diese Glaubensbotschaft galt es, lebendig zu erhalten. Darum sollte sie ins Herz geschrieben und ständig und überall zur Sprache gebracht werden. Die Konsequenz dieser Botschaft lautet: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,5)
Es ist erstaunlich, wie auch heute noch dieser Auftrag Mose – nicht nur bei den konservativen Juden – beherzigt wird.
Gilt nicht ähnliches auch für uns? Müssten nicht Kernsätze unseres Glaubens in unser Herz eingebrannt werden, damit wir sie nicht vergessen?
Jesus hat diesen Kernsatz der Bundesschließung erweitert. Auf die Anfrage eines Gesetzeslehrers nach dem wichtigsten Gebot im Gesetz antwortete er: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“ (Mt 22,37-40)
Jesus erweitert das Gebot der Gottesliebe um das der Nächstenliebe. Beides gehört untrennbar zusammen. Damit ist unlösbar die Verbindung von Himmel und Erde, von durch die Offenbarung Geglaubtem und tätiger Nächstenliebe gegeben. Damit werden aber auch alle Lügen gestraft, die dem gläubigen Menschen die Erdbodenhaftung absprechen wollen. Wer an Gottes Zusagen – etwa das ewige Leben – glaubt, der ist geradezu verpflichtet, positiv die Welt zu verändern.
Liebe Mitbrüder,
immer wieder werden wir über die Medien auf den zurückgehenden Einfluss kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens hingewiesen. Wir selbst spüren doch leidvoll am ehesten den gesellschaftlichen Umbruch – und doch, erleben wir nicht auch so manches kleine Wunder? Sind Statistiken und Zahlen in der Lage, die wirkliche Situation zu erfassen?
Unser Bistum hat zurzeit 805.000 Katholiken in 164 Pfarreiengemeinschaften und 16 Einzelpfarreien. Die regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer wurden im vergangenen Jahr mit 15,4 Prozent errechnet. Während Taufen und Firmungen 2011 im Vergleich zu 2010 kurzfristig sogar noch zugenommen haben, hat ,durch den demographischen Wandel bedingt, die Zahl der Erstkommunikanten und erst recht der Eheschließungen abgenommen. Die Anzahl derer, die 2011 die Kirche verlassen haben, ist gemessen an dem Krisenjahr 2010, im vergangenen Jahr erheblich zurückgegangen. Dennoch ist die Abkehr eines jeden Einzelnen von der Kirche ein unüberhörbares Signal, das uns alle schmerzlich trifft.
Vor einiger Zeit wurde ich von einem Journalisten gefragt: „Lohnt es sich denn überhaupt noch, ein neues Gebet- und Gesangbuch zu erstellen?“ Ich habe geantwortet: „Lohnt es sich noch Fußballstadien zu erhalten? Denn an jedem Sonntag gehen in unserem Land viermal so viele Katholiken in die Kirche wie alle deutschen Fußballstadien fassen“ – nämlich mehr als drei Millionen!
Zahlen sagen eben nicht alles. Ich denke dankbar an die neuen Eintritte und Wiederaufnahmen in die Kirche. Wenn die 213 im Jahre 2011 in unsere Kirche von Würzburg Zurückgekehrten im Vergleich zu den Austritten (3900) nur einen Bruchteil ausmachen, so ist doch die Intensität des Glaubenslebens damit nicht auszumachen.
Wie viele Wunder dürfen wir konkret während unserer Seelsorgearbeit erleben. Wie viele Aufbrüche, innere Bekehrungen und Engagement gläubiger Mitchristen prägen unseren Alltag.
In vielen Teilen der Welt wächst und blüht die Kirche, ist sie jung und lebendig, aber auch angegriffen und verfolgt. Die Christen machen die weltweit größte verfolgte religiöse Gruppe aus. Das Blut der Märtyrer – so heißt es – ist der Same für neue Christen. Glauben wir das?
Die Frankenapostel, an deren Grab wir stehen, sprechen für sich. Und doch: die uns vermittelten demographischen Prognosen für Deutschland zeigen eine weiter schrumpfende Kirche an.
Dennoch spricht Kardinal Walter Kasper vom Kairos im Umbruch der Kirche in Europa. Er sagt, dass er von dem großen Welt- und Menschheitshistoriker Arnol J. Toynbee gelernt habe, „dass es in der gesamten Menschheitsgeschichte in Krisen- und Umbruchssituationen nicht die Mehrheit war, sondern jeweils wache Minderheiten, der Nachdruck liegt auf wache Minderheiten, waren, welche einen Ausweg gefunden haben, dem sich die Mehrheit dann anschließen konnte.“ (Kardinal Walter Kasper: Umbruch, Krise und Erneuerung der Kirche. Manuskript, 5) Er führt als Beleg die kulturprägende Bedeutung der 1933 nur 0,5 Prozent ausmachenden jüdischen Bevölkerung an. „Entscheidend für den gesellschaftlichen Einfluss ist nicht nur die Quantität, sondern ebenso sehr die Qualität“, führt er weiter aus und folgert: „Das sind Gesichtspunkte, welche schon den Theologen Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., sowie manche andere Theologen vor und neben mir zu der Idee der kognitiven, kreativen und innovativen Minderheit und das heiß zu einer neu missionarisch ausstrahlenden Kirche geführt haben.“
Mit anderen Worten: In jeder Krise ist ein Kairos gegeben, den wir ergreifen können. Weder die Flucht in Vergangenes – in die vermeintlich gute alte Zeit – noch die Flucht nach vorne mit Abwurf vermeintlichen Ballastes ist die Lösung, sondern die Hinwendung zum eigenen Ursprung, zu den eigenen Quellen, zu Christus.
Meines Erachtens brauchen wir selbst genügend Zeit, um mit Christus zu kommunizieren. Die tägliche Eucharistiefeier, die stille Zeit vor dem Tabernakel, das Breviergebet, die Schriftlesung und die Beichte sind wesentliche Eckpfeiler dieses Austausches. Die Menschen müssen uns in ihrer Suche nach Gott als betende Hirten erleben, die das, was sie verkünden, auch selbst leben.
Ich weiß, dass die heutigen Anforderungen an uns Seelsorger gewaltig gestiegen sind. Aber gerade deshalb ist die Zeit, die wir unmittelbar mit Gott verbringen, kein Luxus, sondern Kraft- und Zeugnisquelle.
Aus der persönlichen Gottesbeziehung erwächst die Sensibilität und Kraft zur Begegnung mit dem Nächsten.
Im Blick auf die Pfarreien und Pfarreiengemeinschaften schlägt Kardinal Kasper vor: „Großräumige Pfarreien (zu entwickeln), eventuell mit einer zentralen Kirche, in der die sonntägliche Liturgie gefeiert und vielfältige pastorale und caritative Dienste angeboten werden, bei der es aber dabei in der Fläche nicht zu einer Ausdünnung und Versteppung kommt, sondern viele kleine Gemeinschaften unterschiedlichster Art bestehen.“ (Ebd.)
Schließlich folgert Kardinal Kasper: „Das Konzil hat uns für die gegenwärtige geschichtliche Stunde des Abschieds von alten volkskirchlichen Formen und des Aufbruchs zu einer neuen Art des Kircheseins die Richtung gewiesen. Es hat uns ein Licht auf den Weg gegeben, das nicht wie ein Flutlicht eine ganze Piste in die Zukunft hinein ausleuchtet; es hat uns gleichsam eine Laterne in die Hand gegeben, die wie jede Laterne nur leuchtet in dem Maße, als wir selbst voranschreiten.“ (Ebd.)
Die Frankenapostel sind uns vorangeschritten. Voll Freude und Dankbarkeit schauen wir auf sie. Wagen auch wir den Aufbruch in die Zukunft in der Freude des Psalmverses: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“
Amen.