Liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitbrüder,
ich halte hier in der Hand eine auf den ersten Blick recht unspektakuläre Handarbeit: ein aus kleinen Bügelperlen zusammengesetztes burgähnliches Schloß. Offensichtlich hat hier ein Kind, ein junger Mensch, seinen Traum von einem Leben in öffentlicher Bedeutung, Schönheit und Comfort zusammengelegt. Für mich aber ist dieses kleine Objekt von besonderer Bedeutung: Hat doch eine junge, schwer kranke Frau diese Arbeit im Krankenbett mit viel Schmerzen erstellt.
Sandra, so hieß diese Jugendliche, die lebensfroh, intelligent und mit guten sozialen Fähigkeiten geboren wurde. Sie war schon von der Zeugung an durch einen Gendefekt behindert. Trotz ihrer Behinderung, die zu einer Knochenkrankheit, einer Osthereopose führte, wurde sie von ihrer Familie liebevoll aufgenommen und begleitet. Sie besuchte sogar das Gymnasium. Mit zirka 16 Jahren zwang die Zellspaltung sie an das Bett. Im Laufe der nächsten Jahre wurde sie kränker und behinderter. Viele Operationen halfen nicht. Gegen Ende ihres Lebens hatte sie einen Kopf, der zu zerplatzen drohte. Die Knochen zersetzten sich und wurden zunächst mit Lederriemen zusammengehalten, später lediglich in Haftschalen gebettet. Man durfte Sandra nicht anfassen, ohne dass sie riesige Schmerzen bekam. Die einzige, die gut mit ihr umgehen konnte, war ihre Mutter.
Ich lernte Sandra kennen, als sie 22 Jahre alt war. Sie lag – so wie ich sie geschildert habe – zu Hause in einem Krankenbett und wollte von mir das Sakrament der Firmung empfangen. Ich durfte sie kaum mit dem heiligen Öl berühren, weil ihr dies ungeheure Schmerzen verursachte.
Auf einmal brach es aus diesem kranken Körper mit einer fast übermächtigen Stimme hervor: Großer Gott wir loben dich. Die Anwesenden weinten. Welch ein Gegensatz: Auf der einen Seite der schwer kranke, leidende Mensch und auf der anderen Seite der gewaltige Lobpreis Gottes. Dieses unter Schmerzen zuckende Mädchen Sandra pries Gott mit lauter Stimme.
Der anwesende Heimatpfarrer nahm mich beiseite und sagte: Lieber Bischof, ich habe einmal zu Sandra gesagt ‚Du armes Kind, warum lässt Gott dich so leiden?’ Darauf hat sie mir geantwortet: ‚Wie können Sie sagen, dass ich arm bin? Ich bin doch von Gott geliebt!“
Diese Grundhaltung hat Sandra bis zu ihrem Tode beibehalten. Sie wusste sich von Gott geliebt und hat oft mit mir über diese uns möglicherweise seltsam erscheinende Liebe Gottes gesprochen. Menschen – Schulkameraden, Verwandte, Freunde, Nachbarn, Pfarrangehörige – die zu ihr kamen, um sie zu trösten, gingen von ihr getröstet weg. Dieses Mädchen, diese junge Frau hatte eine so tiefe Beziehung zu Gott, dass sie sich nicht durch ihren Schmerz beirren ließ. Sie baute darauf, dass Gott jetzt gerade bei ihr war und mit ihr die Leiden teilte, so wie er bei seinem Sohn Jesus Christus war, als er gefoltert wurde und den schrecklichen Kreuzestod erleiden musste.
Liebe Schwestern und Brüder, gerade wenn man krank ist, Schmerzen hat und oft nicht weiß, wie man den Tag überstehen soll, kann einen leicht die Versuchung überfallen, mit Gott zu hadern und an seiner Liebe zu zweifeln. Jeder, der einmal eine schwere Krankheit durchgestanden hat, oder ständig krank ist, weiß, wovon ich rede. Es ist schwer, an die Liebe Gottes zu glauben, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird – das gilt für kranke Menschen genauso wie für deren Pflegerinnen und Pfleger, Eltern und Verwandte.
Sandra hatte in ihrem schmerzlichen Krankenlager, das sie über viele Jahre erdulden musste, einen inneren Zugang zu Gott gefunden, der menschliches vordergründiges Begreifen übersteigt. Sie wusste sich von den liebenden Armen Gottes umfangen und sah ihre Aufgabe und Sendung darin, anderen Menschen von der Liebe Gottes zu künden. Und sie tat es: Noch in einer Situation, in der wir dachten, dass sie sterben würde, holte sie zerstrittene Familienmitglieder an ihr Krankenbett und sorgte dafür, dass sie miteinander Frieden schlossen. Sie baute die Menschen auf, die kamen, um sie zu trösten und entließ sie getröstet.
Wenn ich an Sandra, denke, dann geht mir auf, wie viel Segen kranke Menschen in unsere Welt bringen können. Nicht die, die sich gesund, erfolgreich, wohlhabend und jung vorkommen sind diejenigen, die wahrhaft leben, sondern diejenigen, die im Vertrauen auf Gottes Hilfe, ihre Leiden zum Segen für andere werden lassen.
Deshalb ist es für mich völlig unverständlich, dass zur Zeit im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik Gentests an künstlich befruchteten Embryonen durchgeführt werden dürfen, die den Zweck haben, befruchtete Embryone, das heißt kleine Menschen, bei auffälligem genetischen Befund auszusondern, das heißt zu töten.
Nach dem jüngsten Urteil des Bundesgerichtshofes besteht die große Gefahr, dass hier Tür und Tor zur Herrschaft des Menschen über den Menschen geöffnet wird. Nicht nur mit Bedauern, sondern mit Protest müssen wir solchen Schritten wehren. Unser Grundgesetz schützt zwar die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, aber bei der Präimplantationsdiagnostik versagt das Gesetz, da hier die Menschenwürde des schwächsten, weil kleinsten menschlichen Gliedes, freigegeben wird. Die Würde des Menschen muss vom ersten Augenblick bis zum letzten Atemzug geschützt werden.
Nach der Firmung nahm mich die Mutter von Sandra beiseite und sagte: Sandra ist unser Sonnenschein. Sie ist der Mittelpunkt unserer Familie. Dem stimmten der Vater und die zwei gesunden Schwestern zu. Nach dem heutigen Urteil des Bundesgerichtshofes hätte Sandra schlechte Karten gehabt. Wer weiß, ob sie dann hätte leben dürfen.
Wir Christen stützen uns zu Recht auf die unantastbare menschliche Würde, weil der Mensch Ebenbild Gottes ist, ja, nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Das gilt für alle: Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Weiße und Schwarze, Arme und Reiche.
Papst Johannes Paulus II. hat am 11. Februar 1985, dem Gedenktag der seligen Jungfrau Maria von Lourdes, den Welttag der Kranken eingeführt, um darauf aufmerksam zu machen, welcher Schatz die kranken und behinderten Menschen sind. Der Marienwallfahrtsort Lourdes, der auch das Krankenhaus der Welt genannt wird, macht deutlich, wie sehr die Kranken im Blick der Kirche sind, welch hohe Wertschätzung wir ihnen entgegenbringen.
Wie viel Segen geht gleichermaßen von den Kranken und Behinderten, aber auch von denen aus, die sich um sie kümmern, den Angehörigen – zumal Eltern und Geschwister – , Pflegerinnen und Ärzte, allen Hilfsorganisationen wie Caritas und Maltesern und vielen mehr. In Lourdes ist beeindruckend zu erleben, wie viel Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Solidarität durch die Kranken auch bei jungen Menschen hervorgerufen wird. Es ist ein Geben und Nehmen. Letztlich ist Christus der Arzt für Leib und Seele. Auf ihn sollten wir schauen, mit ihm im Gebet – und wenn es auch nur ein sich wiederholender Hilfeschrei ist – kommunizieren und im Rosenkranzgebet unsere himmlische Mutter Maria um Fürsprache anrufen.
„Soziale Einrichtungen und Dienste in kirchlicher Trägerschaft sind wesentliche Instrumente des Hilfehandelns der Kirche in der Gesellschaft. Sie sind Ausdruck der Sorge der Kirche um das Wohlergehen, die Gesundheit und die Würde des Menschen. Im kirchlichen Selbstverständnis nehmen sie Teil an der Erfüllung des sozial-diakonischen Auftrages der Kirche und gehören mit zu ihrem Lebensvollzug.“ (Arbeitshilfen Nr. 209, 9)
Ich möchte heute auch die Gelegenheit wahrnehmen und allen, die sich in diesem Sinne haupt- oder ehrenamtlich engagieren, von Herzen danken. Wir können nicht nur vom liebenden Gott reden, sondern wir müssen als seine Hände und Füße ihn in dieser Zeit durch unseren Einsatz sichtbar machen. So danke ich der Familie von Sandra, dass sie diesen wertvollen Menschen so liebevoll begleitet und zu einem Segen für uns alle hat werden lassen.
Ich danke Ihnen allen, die Sie heute in den Kiliansdom gekommen sind, um unserer Frankenaposteln Sankt Kilian, Kolonat und Totnan, zu gedenken. Ich danke allen Kranken, Behinderten und Helfern gleichermaßen.
Ich bin mir sicher, dass auch Sandra mit all den Lieben die wir schon durch den Tod haben abgeben müssen, jetzt mitten unter uns ist. Sandra braucht jetzt nicht mehr ein Luftschloss zu basteln. Sie darf jetzt die Fülle des Lebens in Gott erfahren.
Amen.