Froh und dankbar schauen wir auf den 140-jährigen Einsatz der Erlöserschwestern zurück. Eine bewegte und bewegende Geschichte begegnet uns damit. Es ist eine Geschichte vieler Berufungen: In all den zurückliegenden Jahren haben Mädchen und Frauen eine Erfahrung gemacht, die der des Propheten Jesaja entspricht. Auf die Frage des Herrn: „Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen?“ haben sie geantwortet: „Hier bin ich, sende mich“ (Jes 6,8). In einer Geschichte voller Herausforderungen wurden die Schwestern mit unterschiedlichen Situationen und Problemen konfrontiert, die wiederholt neue Weisen ihres Zusammenlebens erforderlich machten. Der Schauplatz der Kongregationsgeschichte erweiterte sich im Laufe der Jahre: 1927 kam Amerika dazu, 1957 Tansania. In einer Geschichte der Nöte und Leiden musste vieles ertragen und verkraftet werden. Drei immer grausamer werdende Kriege haben von den Schwestern in dieser Zeit ihren Tribut gefordert. Im Dienst für den Erlöser und mit ihm haben sie unermessliche Hilfen geschenkt: Kindern und Erwachsenen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken. Immer wieder waren und sind Marien- und Martadienste fällig. Damit rückt das Entscheidende in den Blick: Die Schwestern des Erlösers sind berufen, wie die Schwestern des Lazarus Maria und Marta dem Herrn zu begegnen, auf ihn zu hören wie Maria und ihm zu dienen wie Marta.
Die Berufung
Direkt im Anschluss an die Geschichte vom barmherzigen Samariter und dem Appell Jesu, barmherzig zu handeln, berichtet Lukas von zwei Frauen, die das tun. Es sind die Schwestern seines Freundes Lazarus. Jesus kommt in ihr Haus. Dort erlebt er unterschiedliche Weisen der Barmherzigkeit. Marta nimmt ihren Freund auf und tut alles für ihn. Wörtlich heißt es: Sie „war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen“ (Lk 10,40). Die andere Schwester setzte sich derweilen zu Füßen Jesu hin und hörte seinen Worten zu (Lk 10,39). Als Marta sich darüber beschwert und Jesus anregt, ihr Bescheid zu sagen, bekommt sie zu hören: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden“ (Lk 10,41 f.). Wer weiß wie oft sind diese Worte missverstanden worden. Auch in der Geschichte der Orden ist das immer wieder geschehen. Jesu Hinweis darauf, dass dem Hören auf ihn der Vorrang vor unseren Aktivitäten zukommt, wurde als Trennungslinie zwischen den beiden Schwestern und dann auch zwischen einzelnen Ordensschwestern und schließlich zwischen kontemplativen und apostolischen beziehungsweise sozialen Orden missdeutet. In Wahrheit gehören Maria und Marta zusammen, und auch das, was sie tun, will zusammen gesehen werden.
Ihre Verbundenheit zeigt sich erneut nach dem Tod ihres Bruders. Gemeinsam benachrichtigen sie Jesus über die Erkrankung seines Freundes (Joh 11,3). Ausdrücklich betont der Evangelist: „Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus“ (Joh 11,5). Marta, die des öfteren unterschätzt wird, ist diesmal als erste bei Jesus. Dass sie auf ihn zu hören versteht, zeigen ihre Worte: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll“ (Joh 11,27). Dann ruft sie ihre Schwester Maria. Diese sagt dasselbe wie zuvor Marta: „Herr, wärest du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,32 wie 11,21).
Wie die beiden Schwestern zusammengehören, so gehören ihre Dienste zusammen. So hat es die Patronin der Erlöserschwestern, Teresa von Avila, gelehrt. In ihrem Buch über die „Wohnungen der Inneren Burg“ schreibt sie im letzten Kapitel: „Glaubt mir: Marta und Maria müssen zusammengehen, um den Herrn zu bewirten und immer bei sich zu haben, und ihn nicht mit schlechter Bewirtung abzufertigen, indem sie ihm nichts zu essen geben (Mt 10,38 f.). Wie hätte Maria es ihm gegeben, wo sie doch die ganze Zeit zu seinen Füßen saß, wenn ihre Schwester ihr nicht beigesprungen wäre?“ In ihrer Auslegung des Hohenliedes betont Teresa erneut: „Marta und Maria [dürfen] nie aufhören zusammenzuarbeiten …, denn im aktiven [Tun], dass das äußere zu sein scheint, arbeitet das innere [Tun], und wenn die Werke aus dieser Wurzel hervorgehen, sind die Blumen wunderbar und äußerst wohlriechend. Denn sie gehen von diesem Baum der Liebe Gottes – und nur aus ihm – hervor …, und es verbreitet sich der Duft dieser Blumen, um vielen von Nutzen zu sein.“
Damit ist auch gesagt, dass die beiden Weisen der Tätigkeit aufeinander angewiesen sind. Bleibt die tätige Liebe aus, dann verkümmert die meditative Liebe; mangelt es am Hören auf den Herrn und am geistlichen Leben, dann wird der soziale Einsatz kraft- und wirkungslos. Mutter Maria Alphonse Eppinger wusste darum. Als sie die Regel für den Orden verfasste, der „zur Verpflegung armer Kranker und Unterstützung anderer Armen“ errichtet wurde, diktierte sie: „Der Geist der Töchter des göttlichen Erlösers muss der Geist Jesu Christi, ihres Vaters und Vorbildes sein. Nach diesem Vorbild müssen die Glieder des Ordens ihr inneres und äußeres Leben ganz einrichten. Ja, der Geist Jesu soll sie beständig und so kräftig beleben, dass er sich in ihrem ganzen äußern Wesen ausdrückt, und somit sich, nach dem Ausdruck des Apostels, auch das Leben Jesu in ihrem sterblichen Leibe offenbaren. Daher müssen sie sich jeden Tag in der Betrachtung des Lebens und besonders des Leidens Jesu üben. Sie müssen trachten, immer vor Gott zu wandeln, und deswegen sich in beständiger Gemütsversammlung durch unablässiges Gebet zu erhalten suchen.“
Viele Erlöserschwestern haben in diesem Geist gelebt und gewirkt. Bei einer von ihnen ist das vorbildlich geschehen: bei Schwester Julitta.
Eine von vielen
Als Erzieherin und später als Pförtnerin hat Schwester Julitta immer wieder Marta- und Mariendienste wahrgenommen. Das fiel ihr nicht leicht. Von Haus aus ist sie mehr geneigt, wie Maria dem Herrn zu Füßen zu sitzen und ganz Ohr für ihn zu sein. Um so bedeutsamer ist Julittas Erkenntnis und Entscheidung: „Wenn es auf meine Neigung ankäme, wollte ich auf die äußere Tätigkeit verzichten und den >besseren< Teil erwählen. Doch der Wille Gottes und seine Interessen für das Heil der ganzen Menschheit drängen mich, nicht nur durch Gebet und freiwillige Sühneleiden, sondern auch durch meine Berufstätigkeit Gottes größere Ehre und mein und anderer Heil zu fördern.“ Als nach dem Krieg immer mehr Menschen an der Klosterpforte Hilfe suchen, wird es immer schwieriger, den Mariendienst auszuüben. Dennoch bleibt das „eine Notwenige“ im Blick und im Herzen, und zwar nicht nur in Intervallen, die von äußeren Aufgaben frei sind, sondern mitten in den einzelnen Diensten. Wenn Schwester Julitta sich irgendeinem Hilfesuchenden zuwendet, dann weiß sie sich auf dem Weg zum Herrn. Sie praktiziert und erfährt, was sie in die Worte fasst: „Wahre, lautere Nächstenliebe, die im Nächsten Gottes Ebenbild sieht und in ihm Gott selbst sucht, ist und bleibt ein echtes Gottsuchen.“
So lautet ihr Rat an uns alle: „Das Ganze wählen, das heißt, Marta mit Maria verbinden.“ „Marta und Maria vereint als Ganzes, dem Herrn anhangen und den Mitmenschen dienen und sie für Gott gewinnen, ist erst unsere volle Christenpflicht und Lebensforderung.“ Für Schwester Julitta ist klar: Es geht hier nicht um etwas, was den Ordensleuten vorbehalten ist. Alle Christen sind berufen, in ihrer Situation und mit ihren Möglichkeiten Marien- und Martadienste zu vereinen.
Bitten wir den Herrn, dass er uns das immer mehr erkennen lässt, und dass er uns den Mut und die Kraft gibt, ihm anzuhangen und den Mitmenschen zu dienen. Amen.
(2106/0764)