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Kundschafter sein

Gedanken von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand bei der Vollversammlung des Diözesanrates der Katholiken am 25. Oktober 2008 in Würzburg

Umbrüche fordern heraus, aber wir dürfen nicht so tun, als ob die derzeitigen Veränderungen etwas absolut Neues wären. Die Kirche und die Gestalt ihres pastoralen Wirkens war zu allen Zeiten Wandlungsprozessen ausgesetzt. So waren etwa die Umwälzungen im Gefolge der Reformation im 16. wie der Säkularisation im 19. Jahrhundert für die Kirche in Deutschland und Europa gravierende Einschnitte, die jeweils zu vertiefter Neubesinnung und zu verstärktem Neuaufbruch zwangen. Es wäre auch heute verfehlt, demographische Veränderungen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse als unentrinnbares Verhängnis hinzunehmen, dem wir als Kirche mit unseren personellen und finanziellen Engpässen ohnmächtig gegenüberzustehen. Schlimmer als jeder Christen-, Priester- und Geldmangel wäre nämlich ein Hoffnungsmangel, der es unserer Berufung nicht zutraut, sich auch unter veränderten Bedingungen zu bewähren. Meine Gedanken am Beginn dieser Vollversammlung möchten etwas Mut machen, mit der gewandelten Situation aus dem Glauben heraus umzugehen. Denn vor jeder Veränderung von Strukturen geht es um eine Vertiefung der Spiritualität, die all dem zugrundeliegt. Ich möchte dabei in einem gedanklichen Dreischritt vorgehen: Mängel erfahren - Möglichkeiten aufdecken - Modelle entwickeln.

1. Mängel erfahren

Eine nüchterne Bestandsaufnahme sieht so aus: Die derzeitige Situation, darum soll nicht herumgeredet werden, signalisiert eine historische Zäsur in der Seelsorgsgeschichte unseres Landes. Eine Pastoral, die alle Gläubigen gleichmäßig versorgt, ist endgültig vergangen. Im Blick auf die vielfältigen Maßnahmen in den einzelnen deutschen Diözesen lässt sich als durchgängiges Anliegen das Bemühen beobachten, die kirchliche Präsenz vor allem dort zu stärken, wo Menschen an oft unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsorten in einem immer vielschichtigeren Beziehungsgeflecht leben. Untersuchungen wie die Sinus-Milieu-Studie haben gezeigt, dass sich die Lebensräume erweitern, weil die Menschen räumlich mobiler und geistig flexibler geworden sind. Man sucht zwar nach religiöser Beheimatung, die aber nicht mehr ausschließlich oder vorrangig in der klassischen Pfarrei bisheriger Prägung gesucht wird, auch wenn ich davor warne, sie einfach als Auslaufmodell zu sehen. Denn Kirche lebt von ihrer grundsätzlichen Prägung her immer von Sammlung und Sendung zugleich; sie braucht ebenso eine Pastoral der Dichte wie der Breitenwirkung. Konkret zeigt sich das Bemühen, beide Dimensionen zu verbinden, derzeit so: Die Pfarrei als gewachsene Sozialgestalt der Kirche bleibt zwar erhalten, steht aber in einem größeren Kontext. Entweder es werden - wie bei uns - sehr weiträumige Pfarreiengemeinschaften errichtet oder es kommt - wie in manchen anderen Diözesen - zur Errichtung neuer Großpfarreien. Entscheidend ist nun bei all dem, ob man diesen Prozess einfach als Mangelerfahrung, nämlich als Verlust des bisher Gewohnten oder auch als Chance eines Aufbruchs zu Neuem sieht. Wachsen wir an Herausforderungen oder resignieren wir vor ihnen? Man könnte viel dazu sagen; ich möchte mich hier auf einen Aspekt beschränken, der in seiner Bedeitung oft übersehen wird. Die Berwertung der momentanen Entwicklung hängt nämlich ganz entscheidend von einem theologisch-spirituellen Verständnis dessen ab, was „Ortskirche“ bedeutet. Darauf möchte ich in meinem zweiten Gedankenschritt eingehen, weil ich der Meinung bin, dass es gerade für engagierte Frauen und Männer, die auf Bistums-, Dekanats- und Pfarreiebene in den Räten tätig sind, eine solche Überprüfung des Kirchen- und Gemeindebildes notwendig ist, wenn es nicht zu folgenschweren Missverständnissen und damit verbundenen Blockaden kommen soll.

2. Möglichkeiten entdecken

Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Würzburger Synode hat sich ein ganz bestimmtes Gemeindeverständnis herausgebildet, das sich am prägnantesten in der Devise zusammenfassen lässt: „Von der versorgten zur mitsorgenden Gemeinde“. Richtig daran ist und bleibt, dass dieser Satz mit der durch Taufe und Firmung begründeten Sendung aller Ernst macht. Das lange Zeit unbemerkte Problem liegt aber in der unterschwelligen Voraussetzung, dass de facto - in pastoraltheologischen Entwürfen wie in vielen Vorträgen, Predigten und Diskussionen - Ortskirche und Gemeinde gleichgesetzt wurden. Eine konkrete Pfarrei wurde dann verstanden als der Mikrokosmos der ganzen Kirche, in der dann entsprechend auch alle Lebensvollzüge präsent zu sein hatten: Von den Gottesdiensten bis zur Gemeindekatechese, von der Jugendarbeit bis zur Altenpastoral, von den Bildungsangeboten bis zu Begleitungsmaßnahmen, von Helferkreisen bis zu Hausbesuchen. Wenn dann irgendetwas davon nicht oder nicht mehr zu realisieren war, hat dies bei den Verantwortlichen - Priestern wie Laien - automatisch ein schlechtes Gewissen und im Gefolge davon Frust und Resignation erzeugt. Übersehen wurde dabei oft der Umstand, dass zumindest das Zweite Vatikanum mit „Ortskirche“ gar nicht die konkrete Pfarrei, sondern das Bistum meint, in dem nicht alles überall gleichzeitig geschehen muss, sondern sich in den Grundbereichen Verkündigung, Liturgie und Diakonie die verschiedensten Glaubenszeugnisse und Lebensvollzüge gegenseitig ergänzen und stützen können. Ich glaube, dass es gerade für unsere diözesanen Räte auf den verschiedensten Ebenen wichtig ist, dieses verkürzte Bild einer Gleichsetzung von Pfarrei und Ortskirche aufzugeben. Wenn ich dagegen die konkrete Gemeinde als Teil des Bistums verstehe, in dem einzelne Gemeinden und Pfarreiengemeinschaften in vernetzter Vielfalt und im komplementären Miteinander leben, dann ergeben sich neue Möglichkeiten und es wird schon rein konzeptionell viel unguter Druck von den Verantwortlichen und von den vor Ort Engagierten genommen. Nochmals: Es war sicher eine pastoral ehrenwerte, aber konzilstheologisch nicht gedeckte Meinung, in einer Pfarrei pastoral alles anzubieten und erfüllen zu müssen, was eigentlich der theologischen Fülle der Ortskirche entspricht. Ich sehe in der derzeitigen Situation nicht einfach nur eine Reduzierung von Aktivitäten, sondern auch die Chance, wieder zu einer realistischen Verhältnisbestimmung zwischen dem Bistum und der Gemeinde vor Ort zu kommen, die zu einer inneren Entlastung mit neuen Perspektiven führt und nicht bloß als schmerzliches Aufgeben von Gewohntem empfunden wird. Die konkrete Gemeinde verliert dabei nicht ihre Bedeutung, aber sie steht in einem weiteren Zusammenhang. Dass es dabei neue Offenheit füreinander und das Aufgeben eingefahrener Abgrenzungsmechanismen braucht, sollte klar sein.

3. Modelle entwickeln

Damit bin ich bei der Frage, welche Eigenschaften es braucht, um der veränderten Situation des kirchlichen Lebens begegnen zu können. Ich möchte jetzt kein detailliertes Profil des hauptberuflichen und ehrenamtlichen Einsatzes entwerfen, das zudem die Gefahr in sich birgt, nur neue Überforderungen zu produzieren. Ich will Ihnen vielmehr ein biblisches Bild vorstellen, das mir selbst viel gibt und das ich gerade für die Mitglieder in den Räten unseres Bistums als hilfreiches Modell ansehe: Das Motiv der Kundschafter im 13. und 14. Kapitel des Buches Numeri (Num 13,1- 14,10) im Alten Testament. Zur Erinnerung: Nach dem Verlassen des gewohnten Umfeldes in Ägypten herrscht nicht nur Aufbruchstimmung; es machen sich zunehmend Unsicherheit und Orientierungsnot bemerkbar. In dieser Situation schickt Mose Kundschafter aus, die feststellen sollen, ob das verheißende Land, zu dem die Israeliten unterwegs sind, wirklich bewohnbar ist. Bei der Rückkehr gibt es zwei unterschiedliche Reaktionen: Die Mehrzahl der Kundschafter lässt sich von den Eindrücken ängstigen; geschildert wird ein düsteres, im letzten lähmendes Szenario. Nur zwei (Josua und Kaleb) haben eine andere Sicht: Sie nehmen zwar auch die Probleme wahr, erinnern das Volk aber gleichzeitig an seine geistlichen Ressourcen, nämlich die Begleitung durch Gott und seine Verheißungen. Ihre nüchterne Zuversicht will zum Weitergehen und zum Abbau von Angst motivieren. Ich denke, in einer ähnlichen Situation sind wir als Volk Gottes (nicht nur) in der Kirche von Würzburg: Auf unserem Weg in eine neue Zeit stehen wir vor bislang nicht gekannten Herausforderungen. Um gesicherte Erkenntnisse über den weiteren Weg zu gewinnen, braucht es Kundschafter. Ist es vermessen, den Frauen und Männern, die sich in unseren Räten engagieren, diese Aufgabe zuzutrauen? Ich setze darauf. Spannend wird es, wenn es um die Auswertung dieser „Vorhuterfahrungen“ geht: Fixieren wir uns auf die Risiken und Probleme und verfallen dann in einen lähmenden Defätismus oder ermutigen wir die Menschen, ohne die Probleme zu leugnen, zu einer nüchternen Zuversicht und zu einer gläubigen Aufbruchstimmung? Dabei wissen wir zwar im einzelnen nicht, was auf uns zukommt, aber wir haben die Gewissheit, wer uns begleitet: Jesus Christus, der mit seiner Kirche „auf dem Weg durch die Zeit“ ist, wie es im Dritten Hochgebet heißt. Ich freue mich jedenfalls, dass ich mich in meinem Dienst von vielen Kundschafterinnen und Kundschaftern begleitet und mitgetragen weiß; dafür möchte ich heute einmal ganz ausdrücklich danken.

Liebe Mitglieder des Diözesanrates!

In diesen Tagen sind es fünfzig Jahre her, dass Johannes XXIII. zum Papst gewählt wurde. Er hat für unsere Kirche viel bedeutet (auch wenn man manches in ihn erst nachträglich hineingedeutet hat). Bei einer Begegnung mit seinem langjährigen Sekretär Loris Capovilla (während meiner Studienzeit in Rom) erzählte dieser, dass der Papst ihm kurz vor seinem Tod für seinen treuen Dienst gedankt und ihm dabei gesagt habe: „Wir waren lang in der Kirche miteinander unterwegs. Die Steine, die im Weg lagen, haben wir nicht aufgenommen und damit geworfen. Was wir nicht aus dem Weg räumen konnten, haben wir liegen lassen, um gemeinsam nach vorne zu schauen und vorwärts zu gehen.“ Mich hat diese Einstellung damals wie heute sehr beeindruckt; deshalb möchte ich sie Ihnen als Wunsch weitergeben: Dass Sie auf dem manchmal steinigen Weg der Kirche die Hindernisse wahrnehmen, aber nicht darüber stolpern, sondern Weggefährten entdecken, die Ihnen helfen, dass sich unser Glaube auch weiterhin als „Unterwegssein mit einer Verheißung“ bewähren kann.