Würzburg (POW) Über 100 jüdische Synagogen hat es um das Jahr 1930 in Unterfranken gegeben. Sie und ihre Geschichte zu dokumentieren, dieses Ziel hat ein Projekt mit dem Namen „Mehr als Steine…“, das im Herbst 2011 in Angriff genommen wird. Innerhalb der kommenden fünf Jahre sollen alle verfügbaren Informationen nach wissenschaftlichen Kriterien erschlossen und als Buch herausgegeben werden. Insgesamt rund 580.000 Euro investieren die Beteiligten, allen voran die evangelisch-lutherische Landeskirche in Bayern. Unterstützt wird die Arbeit auch vom Bayerischen Kultusministerium, der Bayerischen Landesstiftung und dem Bistum Würzburg. Details zu dem Vorhaben stellten die Verantwortlichen am Montag, 19. September, im Jüdischen Gemeindezentrum Shalom Europa in Würzburg vor.
„Ich bin als Exeget zu dem Thema gekommen, als ich Professor Dr. Meier Schwarz kennenlernte, der vor der Verfolgung der Nationalsozialisten nach Jerusalem flüchten konnte“, erklärte Professor Dr. Wolfgang Kraus, Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und Sprecher der Herausgeber. Schwarz habe nach dem Zweiten Weltkrieg bei seiner Rückkehr in die frühere Heimat Nürnberg festgestellt, dass die Synagoge, die er einst besucht hatte, vom Erdboden verschwunden war und sich dort eine Tankstelle befand. Städtische Stellen hätten ihm auf seine Frage nach dem Verbleib des Gotteshauses mitgeteilt, an der besagten Stelle habe sich lediglich ein kleiner Gebetsraum befunden. Nachdem auf Schwarz‘ Betreiben hin Dokumentationsbände zu den vor den Pogromen durch die Nationalsozialisten aktiven Synagogen für Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland sowie Baden-Württemberg entstanden waren, habe er ihm angetragen, auch für Bayern eine derartige Arbeit in Angriff zu nehmen.
2002 startete ein Team aus Theologen, Historikern, Kunsthistorikern und Bauingenieuren mit der Arbeit in den Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern, Schwaben, Oberpfalz und Oberfranken, wo etwa 50 Synagogen zu dokumentieren waren. Nach Publikation des ersten Bands im Jahr 2007 kam dann das Gebiet Mittelfrankens an die Reihe. Die dort erfassten ebenfalls rund 50 Synagogen wurden in einem zweiten Band im Jahr 2010 publiziert. „Pro Ort umfasst die Dokumentation jeweils etwa zehn Seiten, weil wir auch das jüdische Leben darstellen wollen und nicht nur das Bauwerk“, sagte der gebürtige Würzburger Kraus. Er sprach von einem „Herzensprojekt“, mit dem die evangelische und die katholische Kirche Verantwortung übernähmen: „Der rassistische Antisemitismus der Nationalsozialisten fußte auf dem Jahrhunderte alten Antijudaismus der Kirchen.“
Von vier Säulen der Recherche sprach Dr. Axel Töllner, evangelischer Pfarrer und Historiker, der seit 2007 an dem Projekt „Synagogengedenkband Bayern“ mitarbeitet. Zum einen suche das Team in verschiedenen Archiven nach Material. Wichtige Quellen seien zum Beispiel die Staatsarchive, kommunale Archive aber auch das Zentralarchiv für die Geschichte des Jüdischen Volkes in Jerusalem. Viel Bildmaterial sei durch Lokalhistoriker und Heimatforscher gesammelt. In deren Privatarchiven fänden sich auch oft wichtige Aufzeichnungen über Aussagen von inzwischen gestorbenen Zeitzeugen. Selbst noch lebende Zeugen aus der Zeit um 1930 zu befragen, werde immer schwieriger. Vierte und letzte Säule sei das Aufarbeiten der vorhandenen Literatur. „Die Erfahrung hat uns aber gezeigt, dass manche Werke fehlerhaft sind.“ Die gesammelten Informationen würden wissenschaftlich genau bearbeitet. „Wir legen großes Augenmerk darauf, das Werk auch für Laien lesbar zu gestalten und versuchen, die Geschichte des jüdischen Lebens nachzuzeichnen“, betonte Töllner.
Hans Schlumberger, in Marktbreit aufgewachsen und heute evangelischer Pfarrer von Weißenbronn, hob hervor, dass die hohe Zahl von Synagogen, die Unterfranken vor rund 80 Jahren aufwies, in Europa etwas Besonderes war. „Eine ähnliche Dichte gibt es sonst nur in Galizien und der Karpaten-Ukraine.“ Im Früh- und Hochmittelalter sei Mainfranken ein Auffanggebiet für Juden gewesen, die vor Pogromen aus Frankreich und dem Rheinland flohen. Dass gerade in ländlichen Gebieten viele Synagogen zu finden seien, hänge damit zusammen, dass im 16. Jahrhundert viele kleine Territorien Juden aufnahmen, weil diese Schutzgelder zahlten, Sondersteuern zu entrichten hatten und durch Kredite die Wirtschaft ankurbelten. 1813 habe Kurbayern die Niederlassungsfreiheit für Juden stark eingeschränkt. Unter anderem durften diese nicht nach Belieben in Städte ziehen. „Das erklärt auch, weswegen in Gemeinden wie den vor den Toren Würzburgs gelegenen Orten Höchberg oder Veitshöchheim eine große Zahl von Juden wohnten.“ Die jüdischen Gemeinden in Unterfranken seien mehrheitlich von milder Orthodoxie geprägt gewesen, betonte Schlumberger.
Zum Auftakt der Arbeit am Band über die Synagogen in Unterfranken veranstalten die Universität des Saarlandes, die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und das Würzburger Zentrum Shalom Europa von Sonntag, 6. November, 19 Uhr, bis Montag, 7. November, 15 Uhr, eine Tagung unter dem Titel „Mehr als Steine…“. Den Eröffnungsvortrag „Unterfränkische Juden – Teil der Gesellschaft“ am Sonntagabend hält Dr. Roland Flade, Redakteur bei der Würzburger Main-Post. Am Montag, 7. November, können die Teilnehmer Workshops zu Themen wie „Die ‚Würzburger Orthodoxie‘“, „Jüdische Alltagskultur in Unterfranken“ oder „Fränkisches Landjudentum“ besuchen. Am Nachmittag steht unter anderem ein Podiumsgespräch zum Thema „Jüdische Identität in Deutschland im 21. Jahrhundert“ auf dem Programm. Die Teilnahme einschließlich Mittagsimbiss kostet pro Person 20 Euro, für Schüler und Studenten fünf Euro. Anmeldung bis 27. Oktober sowie nähere Informationen bei: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Elke Kapell, Praterinsel 2, 80538 München, E-Mail Elke.Kapell@stmuk.bayern.de.
(3811/0935; E-Mail voraus)
Hinweis für Redaktionen: Foto abrufbar im Internet