Liebe Schwestern und Brüder im pastoralen Dienst, liebe Mitbrüder im diakonalen und priesterlichen Dienst.
Spannungsreicher kann ich mir die heutige Situation der Kirche nicht vorstellen. Von innen und außen angefochten, fragen wir zu Recht nach dem Wesentlichen, nach dem, was uns aus dieser Krise herausführen kann. Krise bedeutet ja eine Wendezeit, eine offene Situation. Wohin kann und soll sich die Kirche – sprich wir – ausrichten?
Nach dem Allensbacher Institut bezeichnen sich in unserer Bevölkerung insgesamt 43 Prozent als religiös, 47 Prozent in Westdeutschland und 25 Prozent in Ostdeutschland. Die stärkste religiöse Gruppe sind die über 60ig Jährigen. Als konfessionslos bezeichnen sich 13 Prozent. Während in Westdeutschland noch 74 Prozent zu einer Kirche gehören sind es in Ostdeutschland nur 32 Prozent. Die Bertelsmann-Stiftung hat 2008 von 70 Prozent der Bevölkerung gesprochen, die sich als religiös oder gar als hochreligiös bezeichnen. Aber von den heutigen Kirchenmitgliedern hat schon jeder Dritte über einen Austritt nachgedacht. So konnte man vor wenigen Tagen in der FAZ lesen: „Die katholische Kirche, die weitaus mehr Reibungsflächen bietet und in der Kritik steht, hält sich insgesamt weitaus besser als die protestantische. Aktuell sind vier Prozent der Protestanten, obwohl deren Kirchen von Missbrauchsvorwürfen weitestgehend verschont geblieben sind, jedoch nur zwei Prozent der Katholiken entschlossen, ihrer Kirche den Rücken zu kehren.“ (FAZ 23.06.10) Ich zitiere dies nur, um deutlich zu machen, dass es nicht allein an dem wachsenden Diskussionsbedarf um Zölibat, Ämter der Frau in der Kirche, Umgang mit den Wiederverheirateten Geschiedenen und Eucharistieverständnis gehen kann.
Die Lage ist sehr ernst und die Verabschiedung von den Kirchen dramatisch. Was ist zu tun?
Eine von der Kirche angeregte Situationsanalyse (MDG: Die Berater) hat ergeben, dass vor allem vier Gruppen von der Kirche erreicht werden: Traditionsverwurzelte, Konservative, Etablierte und Postmaterielle. Sehr wahrgenommen werden die caritativen Angebote der Kirche, aber oft nicht mit ihr als Institution in Zusammenhang gebracht.
Was können wir tun, um die vorhandene Sehnsucht nach der Nähe Gottes aufzugreifen und in eine gelebte Religiosität zu führen?
Papst Benedikt XVI. hat die Gründung einer Kurienbehörde in Form eines Päpstlichen Rates für die Neuevangelisierung der westlichen Länder angekündigt. In Sankt Paul vor den Mauern sagte er, dass diese die Verkündigung der Frohen Botschaft Jesu in jenen Ländern fördern solle, die zwar eine lange christliche Tradition besäßen, aber von einer fortschreitenden Säkularisierung geprägt seien. (Vgl. FAZ 01.07.10: Papst will Westen zurückgewinnen. Ebf. dort) Schon beim Weihnachtsempfang für die Kurie 2009 benutzte der Papst den biblischen Begriff vom Vorhof der Völker als Raum für die Menschen, denen die Religionen fremd sind, denen Gott unbekannt ist und die doch nicht einfach ohne Gott bleiben, ihn wenigstens als Unbekannten dennoch anrühren möchten.
Aus einer wohl ähnlichen Motivation heraus hat sich bei uns eine ganze Reihe neuer geistlicher Gemeinschaften gebildet: Ich denke beispielsweise an die Schönstatt-Priestergemeinschaften, an die Gemeinschaft Emmanuel, an Sant‘Egidio und das Neokatechumenat, weiter an die süditalienische franziskanische Gemeinschaft von S. Bethanien, die sich gerade in unserem Bistum einlebt und an viele andere. Und das ist gut.
Aber wie können wir, die wir in der Pastoral tätig sind, helfend tätig werden?
Von uns erwartet wird eine Wegbegleitung im Glauben! Die Menschen suchen vertrauenswürdige Verkünder des Wortes Gottes. Gerade deshalb ist über das äußerst verwerfliche und schmerzliche Geschehen sexueller Übergriffe hinaus, das bei den Opfern oft ein lebenslanges Trauma hinterlässt, der Vertrauensverlust eine große Barriere geworden. Wegen einiger weniger geraten viele unter Generalverdacht und fühlen sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen eingeengt. – Obwohl man auch sagen darf, dass das Vertrauen zu den Priestern in der eigenen Gemeinde auch heute ‚völlig ungetrübt’ ist. (So Renate Köcher)
Was können wir sinnvoll tun?
Ignatius von Loyola rät: „Gott suchen und finden in allen Dingen, Menschen und Ereignissen.“ (Aus: Priester in einer Zeit des Neuanfangs. Schönstatt 2010. 2)
Wir brauchen sicher wieder Zeiten der Stille und des Gebetes. Das Breviergebet für Priester und Diakone darf nicht als eine zusätzliche Belastung angesehen werden, sondern als ein Durchatmen im Alltagsstress. Die stille Zeit der Anbetung vor dem Allerheiligsten ist kein Luxus, sondern Lebenselexier. In dem absichtslosen Offensein für Gott wachsen die wegweisenden Erfahrungen von Hören, Horchen und Gehorchen.
Wenn unsere eigene Gottesbeziehung stimmt und uns trägt, werden wir auch offen sein für den Nächsten. Dann fällt es uns leichter, den Menschen mit seinen Sehnsüchten wahrzunehmen. Hier gilt es anzusetzen.
Der Zeitdruck ist oft ein Hindernis für die Bereitschaft, dem Einzelnen – auch im Beichtgespräch – ein offenes Ohr zu schenken. Aber können wir nicht doch auch viele Aufgaben in einer echten partnerschaftlichen Zusammenarbeit leisten? Müssen wir nicht manches loslassen. Unsere Strukturen lassen uns oft mehr Freiheiten zu delegieren als wir wahrnehmen. Wie viele ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen uns in den verschiedensten Bereichen. Ihnen Teilbereiche unserer Pastoral anzuvertrauen bringt uns auf der einen Seite Entlastung. Aber auf der anderen Seite brauchen sie uns auch als Zeuginnen und Zeugen des Glaubens, eben als Wegbegleiter des Glaubens. Und sie erwarten von uns mit Recht, dass auch wir anderen selbstlos dienen.
Die Gemeinschaft ist geradezu eine Voraussetzung für gelingenden Glauben. Auch der zölibatär lebende Priester braucht menschliche Gemeinschaft, ein Zuhause, in dem er sich wohlfühlen und auftanken kann. Jede kirchliche Berufsgruppe hat – so ist zumindest meine Erfahrung – einen Kreis, in dem sie sich aufgehoben, angenommen und unterstützt weiß. Haben wir Priester noch solche Conveniats wie ich sie früher dankbar erlebt habe? Haben wir überhaupt noch genügend Gelegenheiten, im geschützten Umfeld unsere Nöte Menschen anzuvertrauen, die wie wir den priesterlichen ehelosen Weg gehen? Haben wir ein offenes Auge und Ohr für unsere Mitbrüder?
Wir brauchen auch Ruhe und Erholung. Gerade die bedrückenden Überforderungen und auch – menschlich gesprochen – deprimierenden Misserfolge, die oft genug Gefühle von Vereinsamung und Scheitern nach sich ziehen, schreien nach körperlicher Ausspannung und seelischer Erholung. Wer in einer Ruhephase einem schönen Hobby nachgehen kann, sollte dies unbedingt tun.
In der Vigilfeier zum Abschluss des Priesterjahres in Rom (10. Juni 2010) hat der Heilige Vater ermutigende Worte zu schwierigen Fragen gefunden. Unter anderem sagte er im Blick auf die Frage nach der richtigen Orientierung: „Es gibt eine Mehrheit gegen die Mehrheit der Heiligen: die wahre Mehrheit sind die Heiligen in der Kirche, und an den Heiligen müssen wir uns ausrichten! Den Seminaristen und Priestern sage ich dann dasselbe: Denkt, dass die Heilige Schrift kein isoliertes Buch ist: Sie ist lebendig in der lebendigen Gemeinschaft der Kirche, die dasselbe Subjekt in allen Jahrhunderten ist und die Gegenwart des Wortes Gottes gewährleistet. Der Herr hat uns die Kirche als lebendiges Subjekt geschenkt, mit der Struktur der Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Papst, und diese große Wirklichkeit … gewährleistet uns das Zeugnis der bleibenden Wahrheit. Das Kriterium des Glaubens ist das Kriterium, unter dem auch die Theologen und Theologien zu sehen sind.“
Für dieses Jahr habe ich den Leitsatz aus der Offenbarung des Johannes gewählt: Komm, Herr Jesus – Maranatha! Es ist die Ausrichtung auf den Herrn, der als der auferstandene und erhöhte Herr bei allen Wirren und Sorgen unter uns bleibt. Geschichte auch als Heilsgeschichte zu begreifen, ist ein Anliegen des Sehers von Patmos. Wir werden in der Apokalypse herzlich eingeladen, aus den Quellen des Heiles zu trinken.
Wörtlich: Der Geist und die Braut … sagen: Komm! Wer hört, der rufe: Komm! Wer durstig ist, der komme. Wer will, empfange umsonst Wasser des Lebens. … Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald. – Amen. Komm, Herr Jesus!