Der Tod Ihres Dekans stellt uns Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Ich spüre nur, wie sehr sie mich – und wahrscheinlich auch Sie alle – bedrängen, sprachlos machen, nicht in Ruhe lassen, verwirren, vielleicht sogar ängstigen oder Schuldgefühle in uns wecken.
Was geht in einem Menschen vor, der keinen anderen Weg mehr vor sich sieht als diesen schrecklichen Weg, gerade wenn er auch noch aus unseren Reihen kommt? Welche Einsamkeit muss einen Menschen überfallen haben, wenn er so reagiert, erst recht, wenn er sich sonst als ein so souveräner und hoch intelligenter Mensch gezeigt hat? Haben wir ihm vielleicht Signale der Zuwendung versagt oder stehen wir „lediglich“ vor dem „Drama des begabten Kindes“?
Warum hat Klaus-Peter Kestler die Kraft gefehlt wider jene nach unten, in die Depression ziehenden Mächte, wider diese in die Tiefe reißenden Fänge des Todes? Warum hat ihn sein Glaube nicht gehalten, den er doch denkerisch, zum Beispiel gegen scheinbaren naturwissenschaftlichen Widerspruch sehr wohl und eloquent zu bewahren wusste? Warum hat Gott ihn nicht gehalten? Hat er Klaus-Peter Kestler fallen lassen? Ja, wie ist das mit dem Glauben überhaupt? Tragen wir ihn wirklich in so zerbrechlichen Gefäßen, wie schon ein Paulus vermutet hat? Ist uns gar Klaus-Peter das Zeugnis des Glaubens in dieser entscheidenden Situation schuldig geblieben? Oder hat er in seiner Verzweiflung nur jenes Licht gesucht, das in der Finsternis des eigenen Herzens aufleuchten soll, von dem er wähnte, es sei ihm hier in Zukunft versagt? Ist sein Tod vielleicht gar ein paradoxes Zeichen unserer Hoffnung auf das alles aufhellende Licht Gottes?(Vgl. 2 Kor 4,6)
Ich weiß das alles nicht und auch unsere Theologie – unsere Denkrede von Gott – scheint uns ohne Antwort zu lassen.
Ich weiß aber vielleicht Eines: Wir dürfen unsere unbeantworteten Fragen und aufbrechenden Ängste, all diese verwirrenden Gefühle bei diesem unbegreiflichen Gott abladen, bei Gott, der diesen schlimmen Tod offensichtlich zuließ, wo er doch sonst so viele gute Zufälle für uns bereit hat, abladen bei dem Gott, den uns Jesus als Abba, als Vater anreden heißt und dessen Namen er geheiligt haben will, jenen geheimnisvollen Namen „Ich bin – der ich je und je dasein werde“.
Ich möchte Gott schon fragen dürfen, ob das mit Klaus-Peter Kestler eigentlich sein Wille war, der da geschehen soll im Himmel wie auf Erden, und ich weiß doch zugleich, dass ich ihm keine Vorschriften machen darf und zumindest heute seinen Willen nicht verstehen muss, ihn vielleicht nie richtig begreifen werde; ich ahne sehr wohl, dass „seine Gedanken nicht unsere Gedanken und seine Wege nicht unsere Wege“ sind.
Ich möchte Gott schon fragen dürfen, ob auf solch erschreckende Weisen wirklich sein Reich kommt, und ahne doch: die sich vernetzenden Adern hin zu diesem Reich erscheinen manchmal wie die wirren Fäden auf der Rückseite eines wunderbaren, kunstvollen Teppichs.
Und was uns betrifft: keiner von uns kann sich der Erkenntnis entziehen, dass wir im Leben und am Leben, dem eigenen und dem fremden, schuldig werden, dass wir alle einander immer wieder etwas schuldig bleiben und dass uns gar nichts anderes bleibt, als einander unsere Schuld zu vergeben, wenn wir denn selbst auf Gottes Vergebung hoffen können und wollen?
Schließlich meine ich, dass jeder von uns immer wieder bitten muss: „Lass uns nicht hineingeraten in die Versuchung des Zweifels an dir, sondern errette uns aus dem Bösen“.
Ja, und dann will ich, wollen wir glauben, dass bei diesem Gott alle Herrschaft und Macht und Größe ist, so dass man nicht dem Trug der eigenen Seele zum Opfer, sondern in seine guten Hände fallen wird, so dass auch noch das tragischste Leben und Sterben in ihm aufgehoben sind. Denn ER vergisst niemanden, wo wir schon längst vergessen haben.
Weil das „Unser Vater“ nicht nur ein Gebet, sondern Jesu Botschaft für uns ist, weil diese Botschaft aber vielleicht nur betend uns aufgeht, darum lade ich ein, für Klaus-Peter Kestler und für uns selbst zu beten: Vater unser im Himmel...
(4606/1636)