Zwei biblische Testamente
Es ist eine gute Fügung, dass uns die heutige Liturgie mit zwei Testamenten beschenkt: Im Hohepriesterlichen Gebet legt Jesus seinen letzten Willen in die Hand des Vaters und vertraut ihn zugleich uns an; beim Abschiednehmen in Milet sagt Paulus den Ältesten der Gemeinde von Ephesus, was ihn letztendlich bewegt. So unterschiedlich beide Testamente sind, in ihrer Mitte steht die Gabe und Aufgabe der Einheit in Christus. Am 100. Todestag von Herman Schell legen beide Testamente es nahe, nach dem zu fragen, was dieser große Theologe uns als Letztes und Wichtigstes zu sagen hat. Die Antwort geben uns die Ereignisse des 31. Mai 1906 und das Zeugnis, das Schell durch sein gesamtes Leben und Wirken hinterlassen hat. In bedenkenswerter Weise ist diese Antwort mit dem Testament Jesu und dem des Völkerapostels verbunden.
Das Testament des letzten Tages
Wie er es täglich zu tun pflegte, feierte Herman Schell heute vor hundert Jahren morgens in der Marienanstalt die Heilige Messe. Als junger Theologe hat er von ihr geschrieben: Die Gläubigen „müssen mit dem Brode zum Opferleib Christi konsekrirt werden; dies geschieht durch den hl. Geist, welcher ihnen die Gesinnung Christi einflösst und damit ihr Opfer Gott wohlgefällig macht.“ Von 8 bis 9 Uhr hielt er seine Vorlesung über „Die Religions- und Offenbarungsphilosophie“. Er beschloss sie mit den Worten: „Die höchste Gewalt, welche keine höhere über sich hat, ist in allem gut, was sie anordnet und tut …, darum muss das Gesetz der höchsten Gewalt, wie immer es lautet, als heilig und gerecht angebetet werden.“ Zu Hause arbeitete er an dem Vortrag, den er fünf Tage später in Berlin bei der Generalversammlung der katholischen Lehrervereine Deutschlands halten wollte. Sein Thema hieß: „Die christliche Offenbarung und die Ziele der heutigen Schulbildung“. Dabei galt es, eine kurz zuvor in einer einflussreichen Zeitung erfolgte Bestreitung der Gottheit Christi zurückzuweisen. Der Christuswahrheit sollte auch der sich anschließende Vortrag bei den katholischen Lehrerinnen gelten: „Christus als Vorbild der Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung“ .
Mittags besuchte Schell seinen Kollegen Franz Xaver Kiefl, wie dieser berichtet „ohne geringstes äußeres Zeichen der Ermüdung und Erschöpfung.“ Am Nachmittag sprach er mit einem seiner Schüler über dessen Doktorarbeit. Er verabschiedete sich von ihm mit den Worten: „Möge der Pfingstgeist uns heimsuchen!“ Dann setzte er seine Arbeit am dritten Band seiner Apologie fort. In einem Kapitel über „Die innere Gottbelehrung der Menschheit“ schrieb er: „Es gibt eine unmittelbare Gottbelehrung, welche alle geschöpfliche Vermittlung der Wahrheit und ihres Verständnisses überflüssig machen wird. Allein diese vollkommene Gottbelehrung wird erst in dem vollendeten Messiasreich eintreten. Die Geistesgaben des Neuen Bundes und des Pfingstfestes sind der Anfang und das Unterpfand dafür.“ Das letzte Wort, das er niederschrieb, hieß: „Ewigkeit“ . Dann steckte Schell das Vortragsmanuskript für Berlin in die Tasche und ging zum Käppele. Ein plötzlich ausbrechendes Gewitter zwang ihn bei der neunten Kreuzwegstation zur Umkehr. Zu Hause brach er tot zusammen. Auf seinem Schreibpult war das zehnte und elfte Kapitel des 2. Korintherbriefs aufgeschlagen. So konnte man an seinem Totenbett die Worte des Völkerapostels lesen, die der Intention Schells entsprachen: „Wir nehmen alles Denken gefangen für den Gehorsam gegen Christus“ (2 Kor 10,6).
Ein Tag, der typisch für Schells Wirken war, hatte ein jähes Ende genommen. Wie im Zeitraffer war zusammengefasst, was ihn zeitlebens bewegt und geprägt hat: Die Liebe zu dem, der Weg und Wahrheit und Leben ist (Joh 14,6); die Gemeinschaft mit ihm in Wort und Sakrament; der Einsatz für ihn mit den Mitteln der Philosophie und der Theologie; die brüderliche Verbundenheit mit dem Kollegen wie mit dem Schüler; die Sehnsucht nach dem Heiligen Geist und nach einem neuen Pfingsten.
Das Testament des letzten Lebenstages spiegelt wider, was Schell in seinem gesamten Werk uns hinterlassen hat. Dieses Erbe ist so reich, dass es nicht in wenigen Worten wiedergegeben werden kann.
Das Testament seines ganzes Lebens
Vergegenwärtigt man sich das Zeugnis, das wir Schell verdanken, dann ist immer wieder ein zweifacher Imperativ zu vernehmen. Er lautet: „Kämpfe bis zum Tode für die Wahrheit, und der Gott der Wahrheit wird für dich streiten!“ Und: „Bedenkt es immer wieder und gebt es weiter: Ihr seid „das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk“ .
Das verweist auf die Bitte Jesu vor seinem Leiden: „Heilige sie in der Wahrheit“ (Joh 17,17). „Bewahre sie in deinem Namen …, damit sie eins sind wie wir“ (Joh 17,11). Herman Schell wusste sich in den „Gottesdienst der Wahrheit“ gerufen . In seiner ersten Vorlesung nach der Indizierung mehrerer seiner Schriften, erklärte er den Hörern, die selbst der größte Hörsaal nicht fassen konnte: „Ich habe für die Wahrheit streiten wollen und will für sie streiten mein Leben lang.“ Schell bekannte sodann, dass die Wahrheit Fleisch geworden ist in Jesus Christus, und dass sie als Logos und Pneuma, als Wahrheitsfülle und Wahrheitskraft weiterlebt in der Kirche. Der Herr, der die Wahrheit in Person ist, tut alles, damit alle Menschen in der Wahrheit geheiligt werden. Vor Pilatus bekennt er: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis gebe“ (Joh 18,37). Das Suchen und Weitergeben der Wahrheit gehört somit wesentlich zur Nachfolge Christi. Deshalb ruft Schell alle Christgläubigen dazu auf. Nicht in einem akademischen Zirkel, sondern in der Öffentlichkeit des Katholikentages beginnt er seine Rede mit den Worten des Psalmisten: „Viam veritatis elegi! Den Weg der Wahrheit habe ich erwählt!“ Er beschließt seine Ausführungen „mit dem erhabenen Gotteswort: >Kämpfe bis zum Tode für die Wahrheit, und der Gott der Wahrheit wird auch für dich streiten!<“ Im Hohepriesterlichen Gebet erbittet das der Herr von seinem Vater, dem Urgrund aller Wahrheit, mit den Worten: „Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit“ (Joh 17,17). Zugleich verspricht er seinen radikalen und totalen Einsatz für die Wahrheit und die Seinen: „Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind“ (Joh 17,19).
Mit seinem Dienst am Wort, mit der Offenbarung des Namens Gottes, das heißt mit der Offenbarung seines Wesens, verbindet sich die Bitte um die Einheit der Seinen: „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir“ (Joh 17,11). Nicht irgendeine Allerweltseinheit erbittet der Herr, sondern die Einheit, die nur Gott geben kann. Alle, die sich Christus anschließen, sollen an der Einheit teilhaben, die im dreieinigen Gott lebendige, beseligende Wirklichkeit ist, „sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir“ (Joh 17,22 f.). „So erscheint die ganze Kirche als >das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk<.“ In diese Worte münden die ersten drei Abschnitte der Konstitution des Konzils über das Geheimnis der Kirche. Dass man Schells zentrale Intention mit denselben Worten wiedergeben kann, zeigt seine Bedeutung für die Kirche. Zugleich ist es ein Hinweis darauf, dass Herman Schell zu den Pionieren des II. Vatikanischen Konzils gehört. Da die innere Aneignung des Konzils und die konkrete Umsetzung seiner Impulse zu den wichtigsten Aufgaben unserer Zeit gehören, dürfen wir Schell als kundigen Helfer an unserer Seite wissen.
Nach seinem Tode waren in seinem aufgeschlagenen Neuen Testament das zehnte und elfte Kapitel des 2. Korintherbriefes zu lesen. Dessen letzter Satz ist wie ein allerletztes Wort Schells, die Summe seines Lebens, der Segen, um den er mit Gott und der Welt gerungen hat. Dieser Satz heißt: „Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“ (2 Kor 13,13). Das hat er bezeugt, das hat er gewollt; das ist das Testament, das der Herr selbst uns hinterlassen hat. Amen.
(2306/0846)