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„Weihnachten war eine Bruchlandung“

Interview mit Kapuzinerbruder Paulus Terwitte – Adventszeit sinnvoll nutzen – Weihnachten nicht nur Fest der Familie – Beichte spielt wichtige Rolle

Würzburg (POW) Viele kennen ihn aus dem Fernsehen oder von seiner Kolumne zu den Schlagzeilen der BILD-Zeitung: Kapuzinerbruder Paulus Terwitte feiert dieses Jahr zum ersten Mal Weihnachten auf dem Käppele in Würzburg. Im folgenden Interview spricht der 50-Jährige über die Bedeutung der Adventszeit und von Weihnachten, den Geschenkkult und den Wert der Beichte vor Heilig Abend.

POW: Bruder Paulus, oft zählt man in der Adventszeit nur die fehlenden Tage bis zu Heilig Abend. Wie kann man den Advent bewusst leben und seinen christlichen Wert wahrnehmen?

Bruder Paulus Terwitte: Ich sage immer, am Abend vor dem ersten Advent ist Silvester, weil wir dann die Rakete starten, um ein Jahr lang die Auferstehung Jesu zu begehen. Die christliche Tradition bietet uns eine Einteilung der Zeit an, die mit dem ersten Advent beginnt. Da ist der Neujahrstag des Kirchenjahres. Als Christ muss ich den Entschluss fassen: Ich will strukturierte Zeit leben. Das heißt im Advent: Zimmer aufräumen, Wohnung sauber machen, Auto putzen, Winterreifen ordentlich aufziehen, Adventskranz und Kerzen aufstellen, eine Rorate-Messe besuchen. Vielleicht eine Familienkonferenz abhalten oder als Single mit Freunden einen Glühweinabend begehen und sich überlegen: Wie wollen wir die nächsten zwölf Monate gestalten?

POW: Viele Menschen empfinden diese Zeit aber als zusätzlichen Stress, weil sie auf der ständigen Suche nach den passenden Geschenken für ihre Angehörigen sind.

Bruder Paulus: Stress ist ja ein Modewort. Wer heute nicht unter Stress leidet, der scheint nicht ganz normal zu sein. Wer an Weihnachten vom Geschenke-Stress spricht, der soll sich zunächst mal fragen: Warum beteilige ich mich eigentlich an diesem Stressgerede? Stress heißt, dass ich Anforderungen spüre, die ich nicht erfüllen kann. Die Leute, die von mir etwas fordern dürfen, die darf ich mir doch aussuchen. Wenn sie am ersten Weihnachtsfeiertag dazu eingeladen werden, ihre Neffen und Nichten zu beschenken, dann können sie sich überlegen, ob sie das mitmachen wollen oder nicht. Und wenn es ganz Spitz auf Knopf kommt, dann schreiben sie halt eine Karte: „Ich hätte Dir gerne etwas geschenkt, aber ich kenne dich zu wenig. Und Dir nur etwas zu geben, wovon ich nicht weiß, ob es dich wirklich anspricht, ist mir zu wenig. Darum schenke ich Dir jetzt einen Tag Zeit, den wir im kommenden Jahr miteinander verbringen können.“ Geschenke wollen ja eine Beziehung ausdrücken und sie vertiefen. Gott fängt dabei an: Er schenkt uns seinen Sohn, weil er die Beziehung zu den Menschen vertiefen will. Er schenkt sich selbst.

POW: Stehen die Geschenke an Weihnachten insgesamt zu sehr im Mittelpunkt?

Bruder Paulus: Ich glaube es gibt nichts Schöneres, als ein Geschenk zu bekommen, das einen zum Staunen bringt. Das ist der Sinn des Schenkens. Das sollten wir uns auch von niemandem madig reden lassen. Nichts ist schöner als einen Tag zu haben, an dem man sich gegenseitig zum Staunen bringt. Aber das hat ja eine Voraussetzung: Anzuerkennen, dass wir kein Recht auf ein Geschenk haben, wie wir auch kein Recht auf Liebe haben, und nicht mal ein Recht auf Harmonie. Wir Menschen sind eher Bedürftige, auch und gerade vor Gott. Und Gott beschenkt uns nicht nach unseren Wünschen, sondern er beschenkt uns nach seiner Gnade. Das ist es ja, was wir an Weihnachten feiern: Jesus kommt den Menschen einfach so entgegen und schließt neue Seiten in ihnen auf.

POW: Viele Alleinstehende werden gerade am Familienfest Weihnachten an ihre Einsamkeit erinnert. Wie können sie trotzdem Hoffnung daraus schöpfen?

Bruder Paulus: Weihnachten als Familienfest ist eine Erfindung der Romantik. Weihnachten ist zunächst ein Fest der Bruchlandung. Gucken sie sich doch einmal an, was das für eine Bruchlandung war im Stall von Betlehem! Maria und Josef waren keine Familie. Die waren nicht einmal verheiratet und bekommen ein Kind. Und dann kommen Leute dazu, die der Abschaum der Gesellschaft waren: die Hirten. Warum wird das erzählt? Das wird erzählt, weil offensichtlich das Glück ganz woanders beginnt, als in unserer überzogenen Emotionserwartung. Einsamkeit kann man innerhalb und außerhalb der Ehe empfinden. Das gehört doch zum Leben. Das ist lebendig. Es wäre ein Witz, wenn wir davon nicht reden würden. Es ist lebendig, traurig zu sein, es ist lebendig, depressiv zu sein. Das alles ist eine Lebenswirklichkeit, die Christus angenommen hat. Das Wort ist Fleisch geworden, das Wort ist Depression geworden, das Wort ist Sünde geworden. „Er, der die Sünde nicht kannte, hat sich für uns zur Sünde gemacht“, heißt es im Zweiten Korintherbrief. Das ist für mich ein super Wort.

POW: Warum zeigen sich die notleidenden Menschen, die sie ansprechen, von dieser Botschaft kaum noch berührt?

Bruder Paulus: Fragen sie mal die Menschen in Würzburg beim Einkaufen, was sie mit dem Dom verbinden. Da hört man: prächtiges Bauwerk, Erhabenheit, Geschichte und so weiter. Aber kaum jemand sagt: Hier glüht das Evangelium, hier ist ein Strahlort der Hoffnung für die Armen. Hier ist die Hoffnung für die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft und der Kirche. Hier sind die wiederverheirateten Geschiedenen geradezu gerne, weil Christus sie einlädt ihr Leben neu zu bedenken. Sie werden hier nicht einfach verurteilt, weil das ein Ort der Barmherzigkeit ist. Aber das glauben wir doch gar nicht mehr. Wir reden davon, dass Gott für die Außenseiter Mensch geworden ist. Dann frage ich mich: Wo sind die Asylbewerber auf unseren Pfarrfesten? Wo sind die Hartz-IV-Empfänger? Es macht mir zu schaffen, dass notleidende Menschen 0190-Nummern aus dem Fernsehen anrufen und sich dort von Astrologen und Kartenlesern irgendwelche Sachen erwünschen.

POW: Wie kann die Kirche dieser Glaubenskrise entgegenwirken?

Bruder Paulus: Wir brauchen Pfadfinder der Hoffnung, die sich nicht überlegen, wie wir das aufrecht erhalten, was gewesen ist, sondern die neue Spuren legen. Zum Beispiel: Man macht in der Pfarrgemeinde mal eine Weihnachtskrippe, über die sich vielleicht die Hälfte aufregen wird. Aber die andere Hälfte wird kommen, um sich das anzugucken. Die Kirche muss Freiräume schaffen, um uns die provozierende Botschaft des Evangeliums vor Augen zu führen. Es gibt ja viele wundervolle karitative Initiativen. Und ich bin froh, dass es in Würzburg einen Gesprächsladen gibt, oder dass wir feste Beichtzeiten haben. Das sind ja Zeichen von Offenheit, die man nicht übersehen darf. Ich bin da auch gar nicht so pessimistisch, weil ich glaube, dass Weihnachten die Weltgeschichte weiterhin bewegen wird.

POW: Sie sprechen die Beichte an. Welche Funktion kommt ihr an Weihnachten zu?

Bruder Paulus: Zur Beichte gehen ist das Beste, was man tun kann vor Weihnachten. Hier hat Gott einen Raum geöffnet, wo man ihm alles sagen kann. Wo man sich vor Gott mal ernst nehmen darf. Das ist doch Weihnachten: Gott nimmt den Menschen ernst.

POW: Vor dem Priester die eigene Schuld zu bekennen, das ist aber für viele Menschen etwas sehr Schmerzhaftes.

Bruder Paulus: Natürlich ist das schmerzhaft! Wenn ich beichten gehe, bekomme ich einen hochroten Kopf, weil ich denke: Oh Gott, muss ich das jetzt auch noch einem Menschen sagen? Und dann denke ich mir: Doch, genau das hat Jesus gewollt! Jesus hat genau gewollt, dass man es ihm in die Augen sagt. Und genau das ist doch das Schöne. Stattdessen laufen die Leute zum Psychotherapeuten oder saufen sich einen an, weil sie mit sich selbst nicht fertig werden. An Weihnachten sagt Gott uns aber: Ich werde mit dir fertig. Gib mir mal deine Schuld. Du brauchst nicht mit dir selber fertig zu werden.

POW: Wie verbringen sie den Heiligen Abend?

Bruder Paulus: Ich verbringe ihn mit meiner Ordensgemeinschaft. Wir werden nachmittags die Vesper beten und dann ein sehr einfaches Abendessen zu uns nehmen. Anschließend beginnt für mich der Countdown zur Christmette, bei dem ich mich in die Dunkelheit zurückziehe und einen geistlichen Text lese: Literatur, die um das Thema Nacht kreist. Ich bin in diesen Stunden sehr nahe bei denen, die schöne Familienfeiern haben wollen, aber sie nicht zu sehen bekommen. Und um Mitternacht feiern und besingen wir das Wunder, dass Gott uns einfach entgegenkommt und uns sein menschliches Antlitz zeigt.

Zur Person: Bruder Paulus Terwitte wurde 1959 in Stadtlohn im westfälischen Münsterland geboren. Nach dem Abitur trat er 1998 dem Kapuzinerorden bei. In Münster und Graz studierte er Theologie. Seine Ewige Profess legte er 1983 ab. Nach seiner Priesterweihe 1985 war er vier Jahre lang in der Pfarreiseelsorge in Offenburg tätig. Von 1989 bis 1992 leitete er das Kloster zum Mitleben in Stühlingen. Anschließend lebte er sechs Jahre lang in einer kleinen Brüdergemeinschaft im ostthüringischen Gera in unmittelbarer Hausgemeinschaft von Menschen mit sozialen Nöten. Von 1998 bis 2006 war er Guardian des Kapuzinerklosters Liebfrauen in Frankfurt am Main. Danach wurde er verantwortlich für die Berufungspastoral seines Ordens und leitete bis zum April 2009 das Kloster Dieburg bei Darmstadt. Seitdem wirkt er im Käppele in Würzburg mit der gleichen Aufgabe. Bundesweit bekannt ist Bruder Paulus durch seine Medienarbeit. Seit 2002 moderiert er jeden zweiten Sonntag die Talksendung „Um Gottes Willen“ auf dem Nachrichtensender N24. Zudem nimmt er im SAT.1-Kirchenprogramm „So gesehen“ Stellung zu aktuellen Ereignissen. Von 2001 bis 2005 schrieb er auf seiner Homepage www.bruderpaulus.de täglich einen geistlichen Kommentar zur Schlagzeile der BILD-Zeitung. Vor einigen Jahren besuchte er an Heilig-Abend die Container-Bewohner der TV-Show „Big Brother“.

(4909/1442; E-Mail voraus)

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